TV-Tipp des Tages: "Die fremde Familie" (3sat)

TV-Tipp des Tages: "Die fremde Familie" (3sat)
Das überschaubare Dasein des Ehepaars Ira und Marquard Wolfens, sie ist Dolmetscherin, er Berufsberater, ändert sich von Grund auf, als Iras Vater Robert einen Schlaganfall hat.
11.11.2011
Von Tilmann P. Gangloff

"Die fremde Familie", 15. November, 20.15 Uhr auf 3sat

Die Filme des vielfach preisgekrönten Duos Nocke/Krohmer zeichnen sich allesamt durch eine Eigenschaft aus, die beinahe einem Alleinstellungsmerkmal gleichkommt: Sie erzählen Geschichten aus dem Leben derart realitätsnah, dass sie fast dokumentarisch wirken. Voraussetzung dafür sind naturgemäß Daniel Nockes Dialoge, die nicht ausgedacht und aufgesagt klingen, und Stefan Krohmers Führung der Schauspieler, deren Darbietungen mitunter fast improvisiert wirken. Drittes Element ist die Bildgestaltung, in diesem Fall von Benedict Neuenfels, der sich mit seiner Handkamera als teilnehmender Beobachter unter die Akteure gemischt hat.

Eine legale Pflegekraft wäre zu teuer

Wie schon in "Ende der Saison", "Familienkreise", "Ein toter Bruder" oder "Sommer 04" beobachten Nocke und Krohmer, wie sich die Dynamik innerhalb einer Gruppe durch Einflüsse von außen wandelt: Das überschaubare Dasein des Ehepaars Ira und Marquard Wolfens, sie ist Dolmetscherin, er Berufsberater, ändert sich von Grund auf, als Iras Vater Robert einen Schlaganfall hat. Es ist bereits der zweite, er ist nun auf den Rollstuhl angewiesen und ein Pflegefall. Eine in ihren Augen angemessene Heimunterbringung können sich die beiden nicht leisten. Also beschließt Ira, dass Robert bei ihnen wohnen soll. Marquard ist nicht begeistert, zumal der Schwiegervater ihn nicht leiden kann, stimmt aber zu.

Weil eine legale Pflegekraft zu teuer wäre, engagieren die Wolfens’ eine junge Rumänin, die nun ebenfalls einzieht. Als Iras vom Vater immer bevorzugter Halbbruder Bernd auftaucht, ein sympathischer Nichtsnutz, der nie was Richtiges gelernt hat und mit Mitte dreißig immer noch auf Roberts Unterstützung angewiesen ist, eskalieren die Aggressionen; das Ideal der häuslichen Pflege zerbricht ebenso wie die Beziehung von Ira und Marquard.

Anders als vergleichbare Produktionen zum selben Thema, aber ähnlich wie "Wohin mit Vater?" (ZDF) von Tim Trageser wird "Die fremde Familie" nie zum Thesenfilm. Abgesehen von einem Pfleger (Jan Messutat), der Ira gleich zu Beginn von oben herab über die Risiken belehrt, vertritt keine der Figuren dogmatische Positionen. Daher mutet die Handlung wie das Dokument eines klassischen "Versuch und Irrtum"-Modells an. Die Schauspieler verhindern allerdings, dass die Geschichte zur abgefilmten Fallstudie wird. Katja Riemann und Thomas Sarbacher (als Ehepaar Wolfens) sowie Fritz Schediwy (Robert) und Stephan Luca (Bernd) passen als Ensemble wunderbar zusammen, Katharina Nesytowa, gebürtige Berlinerin, ist eine ausgezeichnete Ergänzung als rumänische Pflegekraft.

Trotzdem bleibt ein Einwand. Der Einzug Roberts soll sich im dramaturgischen Konstrukt der Handlung wie ein Brandbeschleuniger auswirken, der ein Feuer entfacht, das vorher im Verborgenen glomm. Entsprechende Hinweise bleibt der Film aber schuldig. Die Ehe der Wolfens’ wird im Gegenteil als harmonisch und leidenschaftlich beschrieben. Marquard erliegt nicht mal den Reizen der hübschen Rumänin, was ohnehin recht klischeehaft gewesen wäre; es reicht schon, dass Robert ein sturer Zyniker ist. Der eheliche Kollaps kommt also etwas plötzlich; selbst wenn Ira während eines Kongresses eine Affäre hat. Und dass ausgerechnet der Hallodri Bernd am Ende eine praktikable Lösung für das Pflegeproblem findet, ist gemessen am grimmigen Realismus der Filme von Nocke und Krohmer fast zu schön, um wahr zu sein. Davon abgesehen gelingt es dem Duo gemeinsam mit Neuenfels, der schon bei "Sie haben Knut" mit Krohmer zusammengearbeitet hat, erneut das Kunststück, seine Kunst nie wie Kunst wirken zu lassen.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).