Die neue Gottferne und das christliche Selbstbewusstsein

Die neue Gottferne und das christliche Selbstbewusstsein
Von einer "Rückkehr der Religionen" war in letzter Zeit viel die Rede. Zwar ist soziologisch nicht immer ganz klar, was dabei mit Religion gemeint ist, über eine bloße Sinnsuche hinaus. Gleichwohl fühlen sich durch die Diskussion um Glaube und Werte auch die Atheisten herausgefordert – die Gottlosigkeit des 19. Jahrhunderts feiert eine "fröhliche Auferstehung", wie der Theologe Magnus Striet in Ludwigshafen vor den Vertretern der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) erläuterte. Striet forderte die Christen zugleich auf, selbstkritisch mit dem Thema umzugehen.
20.10.2011
Von Bernd Buchner

Bücher von Richard Dawkins und Christopher Hitchens, Busse in deutschen Großstädten mit der Aufschrift "Es gibt keinen Gott", zunehmende Proteste gegen den Papst und andere Religionsführer: Der neue Atheismus artikuliert sich in jüngster Zeit deutlich schärfer und lauter. Biologen wie Dawkins bestreiten dabei die Willensfreiheit des Menschen und reduzieren ihn auf die Macht seiner Gene – dagegen müsse die Theologie die von Gott gegebene Freiheit des Menschen betonen, verlangt Magnus Striet. Sonst nämlich geriete das im Kontext des ethischen Monotheismus behauptete Menschenbild in Gefahr.

Allerdings, das macht der in Freiburg lehrende katholische Theologe Striet (Foto: Fredy Henning/ACK) ebenfalls deutlich, seien die atheistischen Argumentationen nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Schließlich hätten die Christen das Wissen um die evolutive Herkunft des Menschen bis heute nicht wirklich in den Glauben an den Schöpfergott integriert. "Und natürlich gibt es Moralität ohne Gott", so Striet. Dostojewski liege falsch mit seinem berühmten Satz: "Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt." Am Leben und der moralischen Prägung eines Menschen würde sich zunächst überhaupt nichts ändern, würde er von heute auf morgen den Glauben verlieren. "Und wenn man nur deshalb nicht tötet, weil Gott es verbietet, bin ich immer noch nichtswürdig."

Feuerbach hat Recht und denkt doch zu kurz

Striet widerspricht auf der anderen Seite deutlich dem atheistischen Vorwurf, die Religionen hätten von vornherein die Tendenz zur Gewalt. Man könne deren Wahrheitsanspruch nicht einfach mit der Gewaltfrage in Verbindung bringen. Und mit Blick auf den berühmtesten Religionskritiker des 19. Jahrhunderts hält der Theologe fest: "Ludwig Feuerbach hat a) Recht und denkt b) zu kurz." Er habe Recht, weil die Vorstellung, der Mensch projiziere seinen Möglichkeitshorizont nach außen, nämlich auf Gott, nicht von der Hand zu weisen sei. Andererseits denke er zu kurz, da durch die Projektion allein ja nicht bewiesen sei, dass es Gott nicht gebe.

Wie steht es um die praktischen Erfahrungen der Christen mit dem neuen Atheismus? Ohne Gott keine Gottlosigkeit, so scheint es. "Die Atheisten brauchen die Kirchen, um ihren Protest formulieren zu können", sagt Hans Joachim Ditz vom Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg. Er zitiert zudem eine Studie des Erfurter Religionssoziologen Eberhard Tiefensee, der die Frage stellte: Sind Sie religiös oder nicht-religiös? Viele hätten die frappierende Antwort gegeben: "Weder noch, ich bin normal." Das zeigt nicht zuletzt, dass in einer säkularen Gesellschaft das Bewusstsein dafür langsam schwindet, was Religiosität eigentlich ausmacht.

Das Leid als "Fels des Atheismus"

Diese Erkenntnis wiederum führt Striet, der seinen Vortrag vor der ACK-Mitgliederversammlung unter das Leitwort "Atheisten – eine doppelte Provokation für das Christentum" gestellt hatte, zum Kern des Problems: Es gebe neben der Militanz à la Dawkins oder Schmidt-Salomon noch einen ganz anderen Atheismus, der keiner sei – Agnostizismus. Ein Agnostiker antwortet auf die Frage, ob es Gott gebe: Ich weiß es nicht. Der melancholische Zweifel, so der Freiburger Wissenschaftler, habe die Verhältnisse in Westeuropa seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Ausgehend von der Hiob-Tradition, nannte schon Georg Büchner das Leid den "Fels des Atheismus". Wenn Gott allmächtig ist, warum rettet er nicht? Wo ist er angesichts dessen, was auf der Welt passiert?

Allen christlichen Gruppierungen, wie sie in der Arbeitsgemeinschaft vertreten sind (Gruppenbild von der Mitgliederversammlung: Fredy Henning/ACK), ist klar, dass diese Fragen gerade jene Menschen beschäftigen, die mit Glaube und Kirche aufgewachsen sind, dann aber aus unterschiedlichsten Gründen den Kontakt verloren haben. "Fromme Atheisten" nennt sie der Berliner Religionsphilosoph Herbert Schnädelbach und beschreibt ihre Verlusterfahrung so: "Die Frömmigkeit des Atheisten besteht darin, dass er nicht anders kann, als das Verlorene religiös ernst zu nehmen, und darum stört es ihn, wo es in bloße Garnitur unseres profanen Alltags aufgelöst wird." Seine Gemütslage werde bestimmt vom Gegensatz zwischen dem Wunsch nach kindlichem Geborgensein bei einem Vatergott und dem illusionslosen Erwachenmüssen.

Dieser Agnostizismus, so Striet, sei die viel größere Provokation. Auf sie müssten Theologie und Kirchen Antworten finden. Die "Nöte des Nichtglaubenkönnens" müssten nicht nur respektiert, sondern solidarisch mitgetragen werden. Im aufrichtigen Gespräch mit den zweifelnden Menschen sieht auch die Hamburger Pastorin Martina Severin-Kaiser die Kernaufgabe: "Wie können wir argumentieren, ohne zu werten?" Die Christen dürften auf keinen Fall die Gottesfrage ausklammern, sagt Striet – und zitiert Dietrich Bonhoeffer: "Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – etsi deus non daretur". Als ob es Gott nicht gäbe.


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für das Ressort Kirche + Religion.