Für dieses Wintersemester stehen die genauen Zahlen noch nicht fest, denn Tradition ist auch, dass bis ins Semester hinein noch Studienplätze zu- und abgesagt, getauscht und gewechselt werden. Doch klar ist schon, dass 2011 ein neuer Rekord erreicht wird: Es kommen mehr "Neue" als 2010.
Im vergangenen Jahr nahmen 441.800 Menschen ein Studium an einer deutschen Uni auf, das waren laut Statistischem Bundesamt 46 Prozent eines Altersjahrgangs und mehr als je zuvor. Zum Vergleich: Im Jahr 2005 wurden laut Bundesministerium für Bildung und Forschung rund 356.000 Studienanfänger gezählt, die Quote lag bei 37 Prozent eines Altersjahrgangs. Die Tendenz ist also steigend, und das wird in den nächsten Jahren nicht aufhören.
Die Flut des Doppeljahrgangs
Weil einige Bundesländer die Schulzeit von 13 auf 12 Jahre verkürzt haben, werden an den Gymnasien zwei Jahrgangsstufen gleichzeitig fertig und strömen den Universitäten zu. In diesem Jahr kommen deshalb besonders viele Studienanfänger aus Bayern und Niedersachsen. Bayern arbeitet mit einem Trick, um den Ansturm der neuen Studenten zu entzerren: Die Abiturprüfungen für die G9-Gymnasiasten wurden auf März/April 2011 vorgezogen, so dass diese Abiturienten sich schon zum Sommersemester 2011 zum Studium einschreiben konnten.
Jetzt im Herbst folgen die G8-Abiturienten. Nächstes Jahr werden Doppeljahrgänge aus Baden-Württemberg und Berlin mit der Schule fertig; Berlins Universitäten bieten dann 6000 zusätzliche Studienplätze an. Im Jahr 2013 kommt ein großer Schwung neuer Studenten aus Hessen und dem bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen.
Ein weiterer Faktor, der die Unis vor Herausforderungen stellt, ist die Abschaffung der Wehrpflicht: Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung nehmen zum Wintersemester 2011/12 schätzungsweise 59.000 junge Menschen ein Studium auf, die normalerweise erst zum Bund oder in den Zivildienst gegangen wären. An der Technischen Universität Dresden zum Beispiel macht sich das in diesem Semester in den männertypischen Studiengängen Ingenieurwissenschaften, Maschinenbau und Elektrotechnik bemerkbar: Hier sind die Einschreibezahlen besonders stark gestiegen.
Zehnmal so viele Bewerber wie noch 2001
Die Johannes Gutenberg Universität Mainz hat 24.000 Bewerbungen bekommen, das ist ein Viertel mehr als vor einem Jahr und rund zehnmal so viel wie vor zehn Jahren. Im Wintersemester 2011/12 beginnen hier voraussichtlich rund 6000 "Neue", das entspricht ungefähr der Zahl von vor einem Jahr. An der Uni Hamburg ist von einem Rekord die Rede: Hier haben sich rund 44.200 Studienanfänger beworben, das sind 20 Prozent mehr als vor einem Jahr. Anfangen dürfen knapp 6000, mehr geht nicht. 30.500 haben sich an der FU Berlin beworben, 4000 werden angenommen.
An der Ludwig-Maximilian-Universität in München dagegen ist die Lage laut Pressestelle "entspannt": Beworben haben sich über 48.300 junge Menschen, 12.200 neue Studenten werden nach derzeitigem Stand aufgenommen und damit "nur" 1000 mehr als im vergangenen Jahr. All diese Zahlen sind vorläufig, genaue Daten gibt es erst Anfang Dezember.
An den Zahlen wird deutlich: Auch wenn die Unis ihre Kapazitäten erhöhen, bekommt längst nicht jeder Bewerber seinen gewünschten Studienplatz. Die Hochschulen müssen aussieben. Das übliche Mittel dafür ist der Numerus Clausus (zu Deutsch "begrenzte Zahl") - die Abitur-Note, die den Weg zum Studienplatz nur dann eröffnet, wenn sie gut genug ist. Der NC wird nicht willkürlich festgelegt, sondern ergibt sich aus der Zahl der Bewerbungen und der Zahl der zur Verfügung stehenden Studienplätze. Deshalb variiert der NC von Fach zu Fach und von Semester zu Semester. Wer eine zu schlechte Abi-Note hat, kann sich auf Wartelisten setzen.
Der Samstag als Ausweichtag
Der Hochschulpakt von Bund und Ländern hilft den Universitäten, mehr Studienplätze zur Verfügung zu stellen. In den Jahren 2011 - 2015 soll der Pakt zusätzlich 275.000 jungen Menschen ein Studium zu ermöglichen. Der Bund nimmt 4,7 Milliarden Euro in die Hand, damit die Unis mehr Räume und mehr Lehrpersonal bezahlen können. In der ersten Phase des Hochschulpaktes von 2007 bis 2010 waren es 565 Millionen Euro. Von dem Geld stellen die Unis vor allem zusätzliches Lehrpersonal ein.
Mehr Studenten, mehr Geld vom Bund, mehr Lehrende - doch gibt es auch mehr Platz für Vorlesungen und Seminare? Ja, zum Beispiel an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Hier wird sowohl gebaut als auch gemietet: Es gibt jetzt 840 Unterrichtsräume, vor fünf Jahren waren es nur 646. In Mainz werden Mitarbeiter der Uni in Büros außerhalb des Campus' ausquartiert, so dass die Studierenden möglichst kurze Wege haben. 2012/13 ein Neubau für die Sozialwissenschaften fertig.
Aus Hamburg heißt es, die Räumlichkeiten der Universität seien generell ausreichend. "Dennoch kann es bei einigen Vorlesungen z.B. in den Massenfächern zu Beginn des Semesters etwas enger werden." Die Uni Dresden geht davon aus "dass die Hörsäle reichen. Jeder findet einen Platz". An der FU Berlin wird, falls es allzu eng wird, die Sechs-Tage-Woche eingeführt: "Gegebenenfalls kann auch auf den Samstag als Lehrveranstaltungstag ausgewichen werden."
Wie qualifiziert sind die Abgänger?
Und so bleibt es in den kommenden Jahren an den Unis in Deutschland: eng. Vorausberechnungen der Kultusministerkonferenz zufolge werden die Studienanfängerzahlen mindestens bis 2013 weiter ansteigen. Wegen der geburtenstarken Jahrgänge rechnet die Bundesregierung mit hohen Abiturientenzahlen bis 2016.
Wenn immer mehr junge Menschen studieren – was bedeutet das für den Wert der Bildungsabschlüsse? Was zählt ein Uni-Zeugnis auf dem Arbeitsmarkt, wenn fast jeder Zweite eines vorweisen kann? Der Ausbildungsreferent der Evangelischen Kirche in Deutschland, Oberkirchenrat Joachim Ochel, ist skeptisch. Natürlich seien alle Bemühungen notwendig, alle Menschen bestmöglich zu bilden, sagt er. Die Ansprüche in der beruflichen Praxis nähmen schließlich zu.
Doch genau hier sieht Ochel das Problem: Befähigen die Bachelor-Studiengänge überhaupt zu einer beruflichen Tätigkeit? Gerade bei den hochspezialisierten Studiengängen bezweifelt er das. "Es ist nicht alles zu rühmen und zu loben", meint Ochel und verweist auf das "hervorragende System der beruflichen Ausbildung in Deutschland". Akademisierung sei grundsätzlich zu begrüßen, "aber nicht um jeden Preis".
Bildung für den ganzen Menschen soll es sein
Der evangelische Bildungsbegriff, maßgeblich geprägt von den Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon, hat mehr im Blick als die formale akademische Bildung. "Bildung zielt auf den ganzen Menschen, nicht nur auf den Kopf", so fasste ihn Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der EKD in einem Vortrag im Juni 2010 in Magdeburg zusammen. Probleme sieht Schneider in der "Verengung auf den Wissensaspekt, einseitige Ausrichtung auf die Vernützlichung der Bildung, Standardisierung statt Individualisierung, wenig Schärfung des Gewissens und der Sozialkompetenz."
Der einzelne Student, die einzelne Studentin in der Masse wird sich ab und an fragen müssen: Wohin führt das Pauken und Durchkämpfen? Was lernt man an der Uni "fürs Leben"? Nikolaus Schneider: "Mit seinem Bildungsbegriff hat Melanchthon nicht eine Wettbewerbsgesellschaft vor Augen, sondern einen Weg in Gemeinschaft. Im Zentrum der Bildung steht der Mensch in seiner Beziehung zu Gott, zu sich selbst, zum Nächsten, zur Welt." Zu solcher Bildung sollten aus protestantischer Sicht möglichst alle Schüler und Studenten Zugang haben – nicht nur 46 Prozent eines Jahrgangs.
Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de.