Die amerikanischen Wutbürger machen mobil

Die amerikanischen Wutbürger machen mobil
Auch in den USA wächst die Wut über die Profitgier der Banken und die soziale Schieflage. Seit zwei Wochen wird die Liberty Plaza im Herzen New Yorks von amerikanischen Wutbürgern besetzt. Bei einer Demonstration am Samstag wurden hunderte Menschen festgenommen - nachdem sie von der Polizei auf eine falsche Fährte geführt worden waren.
03.10.2011
Von Max Böhnel

Im südlichen Manhattan, auf der Wall Street und ihren Seitenstraßen, tummeln sich an einem normalen Wochenende sonst nur Touristen aus der ganzen Welt. Denn im New Yorker Finanzdistrikt wird samstags und sonntags nicht gearbeitet. Doch dieser Sonntagmorgen ist anders. Schon an den Ausgängen der U-Bahn-Station "Wall Street" stehen Beamte des New York City Police Departments (NYPD) und schauen trotz aller Lässigkeit jedem Passanten, der dort aussteigt, genau ins Gesicht. Belästigt wird von den Herren mit den oft eingedrückten Polizeimützen niemand. Aber das Gebot der Stunde, von oben befohlen, heißt offenbar: Präsenz zeigen.

Denn am Abend zuvor hatte die Polizei auf der Brooklyn Bridge, die keine zehn Gehminuten entfernt liegt, mehr als 700 Demonstranten festgenommen. Mehr als drei Mal so viele waren am späten Nachmittag dorthin aufgebrochen, um ihrem Protest gegen die Profitgier der Banker und der allgemeinen miesen sozialen Situation in den USA Ausdruck zu verleihen. Aber die Demonstranten, die einen genehmigten Marsch abhielten, wurden von der Polizeiführung offenbar aufs Glatteis geführt.

Anwälte und Journalisten begleiteten den Marsch

Genehmigt war die Demo zwar auf der Fußgängerbrücke, aber einige Polizeibeamte an der Spitze der Demo führten einen Großteil der Teilnehmer auf die daneben liegenden Fahrzeugspuren der Brooklyn Bridge, die die Stadtteile Manhattan und Brooklyn verbindet. Wegen "Behinderung des Straßenverkehrs" mussten deshalb hunderte die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Zum Glück für die Demonstranten begleiteten Rechtsanwälte den Marsch ebenso wie eine Journalistin der "New York Times". Die Polizeimaßnahme wird mit Sicherheit ein gerichtliches Nachspiel haben.

Tags darauf ist die Situation jedenfalls leicht angespannt und selbst für Außenstehende nicht zu übersehen. Auf der Liberty Plaza, wo sich das inzwischen international bekannte Protestlager seit zwei Wochen befindet, ist schon morgens um neun die Polizei nicht zu übersehen. Der Platz, halb so groß wie ein Fußballfeld, wird an allen vier Seiten von Beamten überwacht, die jede Bewegung der müden Camper registrieren. Die Nordseite, die an ein riesiges Bankenhochhaus grenzt, ist Meter für Meter mit gut zwei Dutzend Polizeifahrzeugen blockiert. Einer mobiler, mit fünf Kameras ausgerüsteter Wachturm der NYPD soll für ebenfalls für Ruhe und Ordnung sorgen.

Aber dafür tragen die Demonstranten schon selbst Sorge. Auf dem von Bäumen überdachten Platz ist es überraschend sauber, selbst nach schweren Regengüssen in der Nacht. Die 22-jährige Collegestudentin Corinne Scott aus dem Stadtteil Queens lacht nur. Die Schlafsäcke seien warm genug, die Unterlagen weich, "wenn es regnet, dann sorgen die dicken blauen Plastikplanen für Trockenheit, und wenn es ungemütlich wird, dann schmiegen wir uns halt eng aneinander". Sie hält seit Beginn der Besetzung am 17. September aus. Die Menge, die hier übernachtet, ist von 200 am Anfang auf 500 angewachsen.

Gefilmte Polizeiübergriffe im Internet

Dazu kommen tagsüber mehrere tausend, vor allem, seit gefilmte Polizeiübergriffe der letzten Tage ins Internet gestellt worden waren – der sogenannte Solidarisierungseffekt, den die Polizeibehörden weltweit wohl immer wieder falsch einschätzen. Viele bleiben tagsüber, manche schauen kurz vorbei. Das Camp ist inzwischen auf jeden Fall gut organisiert. Von der Putzkolonne über die tägliche Demovorbereitung, die Gesundheitsversorgung, einen kleinen Kindergarten, eine Bücherei, das Essenskomittee und den Medienausschuss. An diesem Sonntagmorgen sind noch Dutzende Aktivisten in Polizeigewahrsam, aber auch sie tröpfeln nach und nach wieder ein. Auf jeden Fall dürfte das Durchschnittsalter derjenigen, die übernachten, bei 25 liegen. Später, tagsüber, geht das Alter nach oben.

Direkt an der Ostseite der Liberty Plaza befindet sich der Broadway. Die Straße ist ein paar Kilometer weiter nördlich bekannt als die Theater- und Musicalmeile der USA. Hier unten stellt sie eine viel befahrene Verkehrsader und damit eine gute Gelegenheit zur Verkündung von politischen Botschaften dar. Mit seiner Armeeuniform, dem Helm auf dem Kopf und polierten Stiefeln fällt David Suker in der Menge von alternden Linken, jungen Rastafarizopf-Trägern und stillenenden Müttern sofort auf. Er steht stramm und gerade an der Kreuzung zum Broadway. "Die Jahre, die ich in der Armee verbrachte, waren die Jahre, in denen ich die Freiheiten der USA beschützte", sagt er etwas pathetisch, fügt dann aber hinzu "und diese Proteste hier haben zu tun mit den Freiheiten, die uns die Konzerne wegnehmen, nämlich die Freiheit, nach Glück zu streben."

So stehe es, unterstreicht David, in der Verfassung. "Aber dazu ist wirtschaftliche Gerechtigkeit nötig, und sie wird von der Wall Street unterminiert". Der 43-Jährige wendet sich einem deutlich bekifften Hippiepärchen zu, die ihn beide ungläubig anstarren. "Alles okay?" lächelt er ihnen zu. "Ja, ja", sagen beide und wenden sich verwirrt ab. Er habe von 1986 bis 1988 in Heilbronn gedient, sagt er zum Abschied.

Das System des "menschlichen Megaphons"

Die polizeilich geduldete Besetzung der Liberty Plaza kommt mit strengen Auflagen. So sind etwa Bullhörner, Lautsprecher und Megaphone untersagt. Die Demonstranten behelfen sich bei ihren Versammlungen deshalb mit einem simplen System des "menschlichen Megaphons" bei ihrer abendlichen Vollversammlung, die als demokratisches Beschlussorgan dient. Die Sätze oder Halbsätze eines Sprechers werden von den unmittelbar Umstehenden im Chor wiederholt. Dieser Chor wird wiederum von einem größeren Chor kopiert. In Sekundeschnelle bekommen damit tausende jedes Wort eines Redners oder einer Rednerin mit.

Was die Freaks, die Unzufriedenen, die Arbeitslosen, Penner, Collegestudenten und Linken mit ihrer Aktion www.occupywallstreet.com genau wollen, ist dabei nicht klar definiert. Bisher war es aufgrund der schwierigen Auflagen seitens der Behörden, aber auch dem Selbstverständnis der weitgehend antiautoritären, anarchistischen Ideologie der Teilnehmer nach kaum möglich, einen Forderungskatalog oder eine zentrale Forderung zu formulieren. Der Selbstdarstellung auf ihrer Webseite nach, die 24 Stunden lang live vom Liberty Plaza ausstrahlt, ist Occupy Wall Street eine "führerlose Widerstandsbewegung mit Menschen aller möglichen Hautfarben, Geschlechter und politischen Überzeugungen. Was uns gemeinsam verbindet, ist, dass wir die 99 Prozent sind, die die Gier und die Korruption des einen Prozents nicht mehr hinnehmen werden. Wir benützen die revolutionäre Taktik des arabischen Frühlings und ermutigen alle zur Gewaltlosigkeit, um die Sicherheit aller Teilnehmer zu gewährleisten".

Am Samstag erschien zum ersten Mal sogar eine großformatige, vier Seiten umfassende, profesionell gemachte Zeitung mit dem witzigen Namen "The Occupied Wall Street Journal". Darin mischt der ehemalige Korrespondent der "New York Times" Chris Hedges mit. Finanziert wurde die Gratis-Auflage von 50.000 über Spenden. Angeblich kamen innerhalb weniger Stunden über einen Internet-Aufruf mehr als 10.000 Dollar zusammen, um das Blatt zu finanzieren. Auf jeden Fall scheint die Bewegung, die die Wall Street noch nicht einmal symbolisch besetzt hat, trotzdem zu wachsen – nicht nur im Zentrum der Finanzmacht New York, sondern auch in Städten, die als ihre Peripherie gelten. Im Boston beteiligten sich am Wochenende mehrere tausend Menschen an Protesten gegen Zwangsversteigerungen vor der Bank of America. Auch in Chicago und San Francisco wurde demonstriert.

Inzwischen werden auch Gewerkschaften und selbst die Internet-Wahlkampforganisation Moveon.org, die sich vor drei Jahren für Barack Obama eingesetzt hatte, auf die Bewegung aufmerksam. Beide Lager rufen dazu auf, sich am Mittwoch an der Wall Street an Protesten gegen die ungerechte Wirtschaftspolitik zu beteiligen.


Max Böhnel arbeitet als freier Journalist in New York.