TV-Tipp: "Mademoiselle Chambon" (ARD)

TV-Tipp: "Mademoiselle Chambon" (ARD)
Ein überschaubares Leben irgendwo in der französischen Provinz. Ehefrau Anne-Marie und Jean mögen einfache Leute sein, aber ihre gegenseitige Liebe ist aufrichtig.
30.09.2011
Von Tilmann P. Gangloff

"Mademoiselle Chambon", 2. Oktober, 23.35 Uhr im Ersten

Die Szene ist nicht nur von ergreifender Schlichtheit, sondern auch enorm erotisch. Dabei passiert überhaupt nichts: Ein Mann und eine Frau sitzen nebeneinander und hören eine CD. Ihre Berührungen sind geradezu keusch. Und doch sind die Bilder dank der Musik so voller Leidenschaft, dass ihre Umarmung wie purer Sex wirkt.

Mit Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain

Der Franzose Stéphane Brizé hat den gesamten Film auf diese Weise inszeniert: Vordergründig wirkt die Geschichte einfach und übersichtlich, doch im Inneren der Figuren brodelt es. Das funktioniert, weil Brizé mit Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain ganz vorzügliche Hauptdarsteller hat. Die zurückhaltende Inszenierung mit ihren langen Einstellungen wiederum harmoniert perfekt mit der Handlung und ihren Protagonisten: Maurer Jean führt ein überschaubares Leben irgendwo in der französischen Provinz. Die kurzen Familienbilder zur Einführung verdeutlichten: Ehefrau Anne-Marie (Aure Atika) und er mögen einfache Leute sein, aber ihre gegenseitige Liebe ist aufrichtig.

Und dann lernt Jean die Lehrerin seines Sohnes kennen, Mademoiselle Chambon. Ihr Herz geht auf, als sie Jean bittet, der Klasse von seinem Arbeitsalltag zu erzählen. Der zögert zunächst, doch die Kinder sind begeistert von seinen lebendigen Schilderungen; und Véronique Chambon auch. Sie fragt ihn, ob er mal nach ihrem undichten Fenster schauen könnte. Er setzt im Nu ein neues ein und bittet sie, sich zu revanchieren und ihm etwas auf der Geige vorzuspielen; nun ist die Verzückung ganz seinerseits.

All das aber erzählt Brizé beinahe zwischen den Bildern. Welche Unruhe das Erlebnis in Jean ausgelöst hat, zeigt sich erst später, als er daheim und bei der Arbeit wegen irgendwelcher Lappalien aus der Haut fährt. Auf diese Weise macht Brizé das Unsichtbare sichtbar. Seine Methode basiert vor allem auf Geduld; und auf Lindons vortrefflichem Spiel. So gelingt es beiden, durch das simple Aufschichten von Ziegelsteinen zu verdeutlichen, mit welcher Hingabe Jean seinen Beruf ausübt. Die subtilen Liebesszenen funktionieren ganz ähnlich, ebenso wie die bewegenden Bilder gegen Ende, als sich Brizé unverhohlen an der traurigen Romanze "Die Brücken am Fluss" orientiert. Wie Clint Eastwood, so schafft auch er das Kunststück, eine ungemein gefühlvolle Geschichte zu erzählen, ohne dabei je sentimental zu werden.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).