Wofür Gott danken an der Peripherie von Fukushima?

Wofür Gott danken an der Peripherie von Fukushima?
Erntedank an der Peripheie von Fukushima. Ist der Reis belastet, das Gemüse, das Fleisch? Dieses Erntedankfest kann beim Asian Rural Institute (ARI), einem landwirtschaftlichen Projekt in der Präfektur Tochigi, nicht selbstzufrieden und opulent inszeniert werden. Ist der christliche Gott nur für die Fülle zuständig - oder auch für wenig Obst und beschädigte Feldfrüchte?
29.09.2011
Von Donata Elschenbroich

Jäten im Sojafeld, Spätsommer 2011. Ein Shinkansen zischt vorbei. Dann ist der Blick wieder frei zu den besonnten Wolken und den Hügelketten am Horizont. Von dort kommen die Flüsse mit dem klaren Wasser, mit weißem Geröll und feinem Sand. Japan, in der Präfektur Tochigi, zwischen Tokyo und Fukushima: "An der Peripherie von Fukushima", sagt man heute nach dem Großen Ostjapanischen Erdbeben, oder man sagt auch "nach three-eleven".

Auf dem Lehrplan: Erntedank vorbereiten

Auf den Reisfeldern der Nachbarn leuchtet hier und da ein weißer Hut auf. Aber in unserem Feld gibt es viele gebeugte Rücken, da geht es ungewöhnlich arbeitsintensiv zu. Das Feld gehört dem Asian Rural Institute (ARI), einem landwirtschaftlichen Projekt, gegründet vor vierzig Jahren von einem christlichen Japaner.

Hier werden in jedem Jahr dreißig "rural leaders" aus den ärmsten Ländern der Welt ausgebildet. Entsandt von ihren - meist christlichen - Gemeinden in Asien und Afrika praktizieren und studieren sie hier neun Monate lang auf einigen Hektar nachhaltige Landwirtschaft, sie besuchen organische Landwirtschaftsbetriebe und soziale Projekte in ganz Japan, sie diskutieren in Seminaren über "community building" und darüber, was sie von dem hier auf den Feldern, in den Ställen, in der Küche Gelernten in ihre Dörfer übertragen könnten, in Haiti, in Myanmar, in Kamerun.

Als ein besonders anspruchsvolles Projekt im Curriculum beschäftigt alle in jedem Jahr die Vorbereitung des Festes für über tausend Besucher aus der Region: das Erntdankfest, gefeiert an zwei Tagen im Oktober. Da muss mit dem Vorhandenen gewirtschaftet werden, da müssen Ankäufe für die exotischen Gerichte aus den Herkunftsländern mit dem Budget abgestimmt werden, ein Kulturprogramm wird vorbereitet, und für die Beiträge der Anwohner und für lokale Initiativen sind Podien vorgesehen. Kalkulieren, Koordinieren, nächtelang kochen und proben.

Woher die Energie nehmen zum Feiern?

Ein Fest vorbereiten. Da zeigt eine Institution sich selbst und den anderen, dass sie Kraft übrig hat, dass sie mehr leisten kann als nur im Alltag zu überleben. Die japanischen Nachbarn, die Bauern, Lehrer, Hausfrauen kommen seit Jahrzehnten gern auf den Campus des ARI zum Erntedankfest.

Kein japanisches Fest ist das, sondern ein christliches, interessant. Exotisch sind an diesem Tag die Gerichte, die Musik, die Gewänder, aber geschätzt wird auch die verlässliche Qualität der hier eingebrachten Ernte, der über 40 angebauten Gemüsesorten und Kräuter, Beeren, Obst, Pilze. Eier, Fisch, Fleisch, Milch. Und im Mittelpunkt von allem: der Reis. Der glänzende, rundkörnige Reis, weiß und braun. Aus einem der besten Anbaugebiete von Japan.

Aber 2011, welche Ernte wird eingefahren an der Peripherie von Fukushima? Von zum Teil kontaminierten Böden? Woher da die Energie nehmen zum Feiern? Und wofür Gott danken? Noch weiß man im ARI nicht, ob der Reis, den sie in diesem Jahr dennoch angebaut haben, der Prüfung standhalten wird. Zwar konnten einige Bauern der Umgebung ihren Reis bereits verkaufen, die gemessene Belastung lag weit unter den Normwerten der japanischen Regierung, und es gab schon Entwarnung in der Presse. Aber im ARI und bei vielen organischen Bauern der Nachbarschaft, die sich zu Initiativen zusammengeschlossen haben, legt man strengere Maßstäbe an. In diesem Jahr also ein verhaltenes Fest. Mit Diskussionsrunden, Dokumentarfilmen über den Umgang mit nuklearen Risiken. Und dennoch ein Fest. Wie feiert man "verhalten"?

"Wir zeigen, dass wir hier geblieben sind, und dass wir weiter arbeiten werden. Es reicht nicht, nur gegen Atomkraft zu sein. Wir leben ja hier, wir müssen lernen, mit der neuen Realität umzugehen. Ein Neuanfang", sagt der Direktor Kenichi Otsu. Das große Erdbeben im März hat zwar die einfachen Wohngebäude auf dem Campus und die Ställe und Werkstätten, viele von den Gründern eigenhändig in den 70er Jahren gebaut, schwer beschädigt. Aber von den über zwanzig Mitarbeitern wurde niemand verletzt, und die Teilnehmer des neuen Jahrgangs waren noch nicht eingetroffen.

Die Mitarbeiter des ARI haben entschieden, zu bleiben

In den Wochen danach wurde das ARI eine Anlaufstelle für Hilfen an die Tsunami-Opfer. Aktivität half über Angst und Lähmung. Mit Spenden aus aller Welt wurden inzwischen die Gebäude und Werkstätten einigermaßen repariert, diese Folgen des Erdbebens sind aufgefangen. Nicht aber die nukleare Bedrohung. Sie stellte dem ARI die Existenzfrage: eine Ausbildungsstätte für nachhaltige Landwirtschaft, 120 Kilometer von beschädigten Atomkraftwerken entfernt? Darf man Teilnehmer um die halbe Welt anreisen lassen, um sie der Gefährdung auf möglicherweise kontaminierten Äckern und Ställen auszusetzen?

Die Mitarbeiter des ARI haben entschieden, zu bleiben und weiter zu arbeiten. Die regelmäßig gemessene Strahlung ist hier nicht höher als in Tokyo. Auch das Grundwasser ist unbedenklich. (Die Kinder unter drei Jahren der Mitarbeiter leben allerdings mit ihren Müttern vorläufig noch in anderen Gegenden von Japan.) Nun müssen die Folgen der nuklearen Bedrohung genau studiert werden, mit eigenen Messverfahren und in Zusammenarbeit mit den Betroffenen der Region, mit Wissenschaftlern aus Weißrussland, mit Experten aus aller Welt. Um den Boden zu regenerieren wird experimentiert, wird in diesem Jahr zum Beispiel viel Soja angebaut. Vorläufig wird nichts gegessen, das unter freiem Himmel über der Erde gewachsen ist, sondern nur die Ernte aus den eigenen Gewächshäusern. Die Kühe sind verkauft, weil das Gras belastet war. Regelmäßige Kontrollmessungen erlauben aber das Halten von Hühnern und Schweinen.

Erntedank muss von allen begangen werden können

Paing Ngaw, einer der Teilnehmer des Jahrgangs 2011, ist ein Landpfarrer aus Myanmar. Sein Heimatdorf ist in vier Tagesreisen von der Hauptstadt Rangun zu erreichen, die letzten zwei Tage zu Fuß. In Japan jätet er heute Unkraut zwischen Sojapflanzen, die Caesium im Boden abbauen sollen. Der Shinkansen zischt wieder vorbei, durch ein hochmodernes Land, das nach dem Willen seiner Regierung weiterhin Atomkraftwerke exportieren wird. Der Sozialarbeiter Gontran aus Haiti hat in japanischen Gastfamilien gesehen, wie man die Zeit nutzt, um fünf morgens ist er mit aufs Feld gegangen, er ist entsetzt, wieviel Zeit in seinem Dorf mit Lethargie verschwendet wird. (Zeitmanagement ist ein wichtiges Lernziel im Tageslauf im ARI, es gibt ständig etwas zu tun!). Aber was hat das japanische Arbeitsethos vermocht gegen die nukleare Anmaßung?

Für solche großen Fragen gibt es hier nicht die Worte. Nicht die Zeit: das Fest will vorbereitet werden. Nächtelang in der herrlichen Küche, zwischen den riesigen gescheuerten Woks, den zerbeulten Schüsseln und Kellen, den hundertfach geschliffenen Messern und Schnittbrettern mit tiefen Mulden. Die Arbeit geht weiter, auch wenn Ernten bedroht sind. Dieses Erntedankfest kann nicht selbstzufrieden und opulent inszeniert werden. Dankt man Gott nur dann, wenn die Scheuer voll ist? Ist der christliche Gott nur für die Fülle zuständig, ist er der Gott der Erfolgreichen? Ein Erntedankfest, so stellt sich 2011 die christliche Aufgabe an der Peripherie von Fukushima, muss von allen begangen werden können - auch von denen, die wenig Obst, oder beschädigtes Obst, auf dem Teller haben.


Dr. Donata Elschenbroich ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet am Deutschen Jugendinstitut auf dem Gebiet der international vergleichenden Kindheitsforschung. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Kindheit und Erziehung in Japan. Donata Elschenbroich hat drei erwachsene Kinder und lebt in Frankfurt am Main.