Herr Heinig, unter den Institutionen, die bei den Deutschen hohes Vertrauen genießen, steht das Bundesverfassungsgericht weit oben. Zu recht?
Hans-Michael Heinig: Das Bundesverfassungsgericht hat unser Bild vom Staat immer wieder geprägt. Obrigkeitsstaatliche Hörigkeit ist auch deshalb aus Deutschland verschwunden, weil mit dem Bundesverfassungsgericht eine Institution Grundrechte effektiv auf Beschwerde der Bürger hin gegen alle anderen staatlichen Instanzen durchsetzen konnte. Das Gericht hat seine exzeptionelle Stellung - ein Kontrolleur ohne Kontrolle - lange Zeit klug genutzt.
Hans Michael Heinig. Foto: epd-bild/Jens Schulze
Das heißt, die Bilanz fällt insgesamt positiv aus?
Heinig: In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, das Gericht habe den Bogen überspannt. Der Beitrag des Gerichts in den ersten 40 Jahren der Bundesrepublik war wichtig für unsere politische Kultur, der Beitrag der letzten 20 Jahre hingegen ist eher durchwachsen. Das Gericht ist in seinen Entscheidungen populistischer geworden. Und als rechtliche Institution trägt es nicht unerheblich zur Entpolitisierung gesellschaftlicher Konflikte bei. Das Bundesverfassungsgericht ist uns allzu häufig zugleich Ersatzgesetzgeber und Ersatzkaiser geworden.
Wie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Karlsruher Rechtssprechung in Sachen Religionsfreiheit entwickelt?
Heinig: Das Gericht hat nach kurzen Irrwegen spätestens in den 1960er Jahren Leitlinien entwickelt, an denen es - mit kleineren Ausschlägen - sehr konsequent festhält: Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist von hohem Gewicht. Sein Schutzbereich, also welches Verhalten geschützt wird, das wird sehr weit verstanden. Der einzelne soll sein gesamtes Leben an der religiösen Lehre ausrichten können. Er kann sich in seinen religiösen Überzeugungen auch in Widerspruch zur offiziellen Doktrin seiner Religionsgemeinschaft begeben, ohne den grundrechtlichen Schutz für ein solches Verhalten zu verlieren. Zugleich darf der Gesetzgeber in das Grundrecht nicht zur Verfolgung beliebiger Zwecke eingreifen, sondern nur, wenn höherrangige Verfassungsgüter wie Grundrechte Dritter oder Verfassungsprinzipien dies rechtfertigen. Diese Konzeption vermag bis heute zu überzeugen. Sie gehört zu den klaren Pluspunkten des Gerichts.
Was waren maßgebliche Entscheidungen des Verfassungsgerichtes zum Staatskirchenrecht?
Heinig: Die Fülle an Rechtsprechung ist kaum noch zu überschauen. Drei wichtige Themenkreise lassen sich ausmachen. Am Anfang dominierten Fälle, in denen das Gericht die negative Religionsfreiheit gegenüber der volkskirchlichen Mehrheitsgesellschaft der damaligen Zeit durchzusetzen half. So wurden etwa Nichtkirchenmitglieder davor geschützt, zur Kirchensteuer herangezogen zu werden. Seit den 1990er Jahren stehen hingegen Fälle im Vordergrund, in denen Minderheitenreligionen justizförmig um gesellschaftliche Gleichberechtigung oder um Anerkennung ihrer besonderen religiösen Interessen kämpften. Als Beispiele lassen sich die Verfahren zum Schächten durch muslimische Metzger oder zum öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas nennen.
[listbox:title=Das Bundesverfassungsgericht[Das Bundesverfassungsgericht wacht seit 1951 über die Einhaltung der im Grundgesetz formulierten Rechte. Es wurde als Reaktion auf die Erfahrungen im Dritten Reich ins Leben gerufen, damit die politische Macht in Deutschland nicht mehr missbraucht werden kann. Zur Beachtung des Grundgesetzes sind alle staatlichen Stellen verpflichtet. Kommt es dabei zum Streit, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Seine Entscheidungen sind unanfechtbar. An die Rechtsprechung der heute 16 Verfassungsrichter sind alle übrigen Staatsorgane gebunden. Seit Bestehen des höchsten deutschen Gerichts wurden in den vergangenen 60 Jahren rund 186.000 Entscheidungen getroffen.]]
Durchgängig spielten schließlich auch Verfahren eine Rolle, in denen die beiden Kirchen ihre verfassungsrechtlich garantierten Belange gegenüber dem Staat vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen mussten. Häufig ging es um die Reichweite der korporativen Freiheit, die eigenen Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten. Bis in die 1970er Jahre hinein hat das Gericht hier wichtige Leitentscheidungen, etwa zur kirchlichen Diakonie, getroffen.
Worin sehen Sie die aktuellen Fragen?
Heinig: Gegenwärtig rücken diese Themen erneut in den Mittelpunkt, so wenn es um das kirchliche Arbeitsrecht geht, um das Streikverbot oder die Gleichwertigkeit von Tarifverträgen und Vereinbarungen im Dritten Weg in der Kirche. Es wird spannend sein zu beobachten, ob das Gericht auch hier wie bei der individuellen Religionsfreiheit seinem vor vielen Jahren eingeschlagenen Kurs treu bleiben und auch der korporativen Religionsfreiheit einen hohen Stellenwert einräumen wird.
Lassen sich Veränderungen erkennen, mit denen das Gericht den zunehmenden religiösen Pluralismus berücksichtigt?
Heinig: Das deutsche Religionsverfassungsrecht ist seit jeher auf Pluralität zugeschnitten. Diesen Leitgedanken des Grundgesetzes nimmt das Gericht in seiner neueren Rechtsprechung konsequent auf, indem es die gleichberechtigte Einladung des Grundgesetzes an alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften betont, an den ursprünglich auf die Kirche zugeschnittenen Rechten teilzuhaben. Sein Verständnis der Religionsfreiheit hat das Gericht dagegen unter dem Eindruck forcierter Pluralität bislang nicht revidiert.
Auch am Modell einer nichtlaizistischen Trennung von Staat und organisierter Religion hält das Gericht grundsätzlich fest - wiewohl die Entscheidung zum Kopftuch der Lehrerin in der öffentlichen Schule hier einen starken Gegenakzent setzt. Doch die größten Herausforderungen für das Verhältnis von Staat und Religionen liegen gegenwärtig wohl eher in der Politik als im Recht. Politisch erodiert die Akzeptanz des herkömmlichen Religionsverfassungsrechts - das ist tragisch, weil wir in Deutschland - Christen, Andersgläubige wie Nichtgläubige - damit doch unter dem Strich sehr gute Erfahrungen gemacht haben, auch im internationalen Vergleich. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht auf seine Weise maßgeblich beitragen.