Ein glühender Appell für mehr ethische Sensibilität

Ein glühender Appell für mehr ethische Sensibilität
Der Papst sprach vor dem Bundestag - eingeladen als Oberhaupt des Vatikans, aber, wie er selbst sagte, eben auch als Bischof von Rom und Oberhaupt der katholischen Christenheit. Seine Rede war grundsätzlicher Natur: kein Wort zu aktuellen Problemen, zu den Debatten rund um Ökumene und Kirche. Benedikt XVI. zeigte stattdessen, dass er für Glaube und Religion werben will. Vor dem Bundestag ließ er alle anderen Probleme beiseite.
22.09.2011
Von Eduard Kopp

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags können sich freuen, dass das Oberhaupt der katholischen Kirche ihrer Einladung ins Parlament gefolgt ist. Sie haben in Papst Benedikt XVI. nicht nur den obersten Repräsentanten einer Weltkirche zu Besuch, sondern auch ein Staatsoberhaupt und - das sollte sich zeigen - eine weithin geachtete moralische Instanz, die nicht nur zu politischen Problemen Position bezieht und ihren Einfluss direkt oder über ihre diplomatischen Kanäle, die Nuntiaturen, zur Geltung bringt, sondern auch mit grundsätzlichen theologischen Überlegungen

Sein Stellenwert beruht, anders als bei seinem Vorgänger, weniger auf Reisen, mehr auf seiner Präsenz als kluger Buchautor. Benedikt XVI. ist ein Bestsellerautor: Er verfasste zwei viel beachtete Bücher über Jesus von Nazareth, auch das Interviewbuch "Licht der Welt" fand breite Aufmerksamkeit. Er ist ein Mann, der gelesen und gehört wird: von seinen politischen Gegnern ebenso wie von seinen Anhängern, von denen, die sich religiöse Einsichten von ihm erwarten oder die an ihm ein Exempel in Sachen Religion statuieren wollen. Im Bundestag beschränkte sich Benedikt aufs Grundsätzliche, und das sind für ihn die Menschenrechte - auch jene, die nicht im Grundgesetz stehen, sondern die zum Beispiel mit dem ethischen Werte zu tun haben: der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens von Anfang an.

Vor die Parlamentarier des Bundestags trat der Papst als moralischer Warner - nicht was einzelne Verhaltensnormen betrifft, sondern ganz grundsätzlich. Er votierte dafür, deutlich mehr Sensibilität zu entwickeln für das "wahrhaft Rechte": die im Menschen tief verankerte natürliche Moral. Wenn er von der menschlichen Vernunft sprach, meinte er das Einsichtsvermögen der Menschen in größere Zusammenhänge. Die "positivistische Vernunft" hingegen, die sich immer nur im engen Kreis der Sachargumente dreht, reicht ihm nicht aus. Das Aufkommen der ökologischen Bewegung ist für ihn ein solches Beispiel, auf eine tiefere Vernunft, auf größere Zusammenhänge zu achten.

Protestanten bleiben skeptisch beim Naturlob des Papstes

Diesen Gedanken Benedikts könnte man wie eine Verneigung vor grünen Politikern verstehen, aber parteipolitisch wollte der Papst seine Bemerkungen gerade nicht verstehen. Worum es ihm ging: die Achtung der menschlichen Natur, die so oft von Manipulationen und kaltem Rationalismus bedroht ist. Der Papst distanzierte sich klar von der Vorstellung, dass nur das gelten solle, was "verifizierbar und falsifizierbar" ist, was also in wissenschaftlichen Studien zu belegen oder zu widerlegen ist. Einer seiner Kernsätze: "Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur; und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat."

Wenn man so will, war die Rede des Papstes ein glühendes Plädoyer für die Achtung des Lebens. Die Nutzanwendung für die Parlamentarier von heute? Da gibt es einen kleinen, versteckten Hinweis in dem Satz: "Der Mensch kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen." Das liest sich wie eine Stellungsnahme zu den Debatten um die Präimplantationsdiagnostik, die er und weite Teile der katholischen Kirchenleitung klar ablehnen.

Protestanten werden das Lob auf die Natur als Quelle des Rechts und die Naturrecht und tiefere Vernunft als Quelle des Rechts mit Skepsis betrachten. Es widerspricht der evangelischen Einsicht, dass Menschen durch Mark und Bein zugleich "gerechtfertigt und sündig" sind. Da bleibt immer ein Vorbehalt dem gegenüber, was sich moralisch aus den Tiefen der eigenen Seele und der eigenen Erkenntnis ans Tageslicht bringen lässt. Zu oft, so die historische Erfahrung, hat, was mit Vernunft und gar mit der Offenbarung begründet wurde, auch von Christen und Kirchen, politisch und moralisch in den Abgrund geführt. Nicht nur die Nazi-Zeit ist voller Versuche, Abwegiges als vernünftig erscheinen zu lassen. Man denke nur an die "Euthanasie" in Nazi-Deutschland (die, unnötig zu sagen, von diesem Papst klar als Verbrechen bezeichnet wurde).

Der Papst ist mehr als die Missbrauchsdebatte

Dass dieser Papst mit seinen ethischen Prinzipien zum Beispiel in der Sexualethik Kritiker auf den Plan ruft, ist nichts Neues. Kritik auszuhalten, darin ist Benedikt bis zum Übermaß geübt. Manchen Kritikern geht sein hermetischer Panzer in theologischen und ethischen Streitfragen zu weit. Schon in seiner Zeit als Theologieprofessor in Tübingen musste Joseph Ratzinger mit dem geballten Unwillen, in diesem Fall von Studenten, zurecht kommen. Er entzog sich damals der direkten Konfrontation und wich ins behütete Regensburg aus. Das kann und will er angesichts seines Amtes nicht mehr.

Der Papst ist mehr als die Missbrauchsdebatte und eine rigide Geschiedenenpastoral, er ist mehr als der verwegene Kämpfer für Pflichtzölibat und gegen die Weihe von Frauen zu Diakoninnen. Auch wenn diese Themen extrem dringend sind, ist er in Deutschland, um für Glaube und Religion zu werben. Denn die Erosion der Kirche ist auf allen Ebenen schmerzhaft zu spüren. Nicht die großen Schlagzeilen der Kirchenkritiker sind sein Problem – darum kümmern sich mehr oder weniger souverän beamtete Fachleute. Die stille Auswanderung der Kirchenmitglieder bedrückt ihn viel mehr.

Nur: Ob die Wiederbelebung alter kirchlicher Traditionen auch ein Königsweg in die Zukunft ist, ist fraglich. Die Erosion der Gemeinden zieht sich durch alle Altersgruppen, es müssen neue Wege der Seelsorge und des Gemeindelebens gefunden werden, nicht die alten als neue ausgegeben werden. Und darin sollten Frauen und Nichttheologen eine wichtigere Rolle spielen als bisher.


Eduard Kopp ist leitender Redakteur beim evangelischen Magazin chrismon.