Piraten: Bürgerbeteiligung ins Parlament tragen

Piraten: Bürgerbeteiligung ins Parlament tragen
Die Piratenpartei will sich nach ihrem Sensationserfolg in Berlin für mehr Mitspracherechte der Bürger einsetzen. Spitzenkandidat Andreas Baum sagte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa: "Das drängendste Thema für uns ist die Beteiligung."
19.09.2011
Von Monika Wendel und Stefan Engelbrecht

Die viel belächelte Piratenpartei hat bei der Berlin-Wahl einen Überraschungscoup gelandet. Den Außenseitern gelang am Sonntag auf Anhieb der Sprung ins Abgeordnetenhaus - nach den Hochrechnungen erreichten die Piraten bis 9,1 Prozent der Stimmen. "Das ist ein historischer Tag für die Piratenpartei und für Deutschland", sagte der jubelnde Bundesvorsitzende Sebastian Nerz und verglich den Erfolg mit dem der Grünen vor 30 Jahren.

Piraten: Bürgerbeteiligung ins Parlament tragen

Die Piratenpartei will sich nach ihrem Sensationserfolg in Berlin für mehr Mitspracherechte der Bürger einsetzen. Spitzenkandidat Andreas Baum sagte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa: "Das drängendste Thema für uns ist die Beteiligung. Wie schafft man es, diesen Wunsch der Berliner, sich aktiv in die Politik einzubringen, auch stärker ins Abgeordnetenhaus mitzunehmen?"

Baum räumte ein, dass die früher vor allem auf Netzthemen spezialisierte Partei inhaltlich noch einigen Nachholbedarf hat. "Natürlich haben wir an manchen Stellen noch Wissenslücken und müssen uns noch weiterentwickeln. Das ist ja kein Wunder bei einer Partei, die bisher keinen einzigen Festangestellten hatte", sagte der 33-Jährige. "Wir werden uns in alle Themen einarbeiten. Wir sagen nicht, dass wir keine Meinung haben zu Dingen, die bisher noch nicht in unserem Wahlprogramm vorgekommen sind. Aber wir werden uns diese Meinung gemeinsam mit unseren Mitgliedern bilden."

Die Piratenpartei kann nach den Hochrechnungen alle 15 Kandidaten ins Landesparlament entsenden. Eine zu dünne Personaldecke fürchtet Baum gleichwohl nicht. "Wir arbeiten natürlich als Team. Wir haben nicht nur die 15 Kandidaten auf der Liste, sondern wir haben 12.000 Mitglieder bundesweit und allein in Berlin mehr als 1.000", sagte der Spitzenkandidat. "Unsere Mitglieder werden uns ganz aktiv unterstützen, wie sie das auch bei der Entwicklung des Wahlprogramms getan haben. Darauf setzen wir, und das wird auch eine unserer Stärken sein."

Chef-Pirat Baum: "Wir werden von uns hören lassen"

Allen Warnungen der etablierten Parteien zum Trotz eroberten die Piraten fünf Jahre nach ihrer Gründung zum ersten Mal ein deutsches Landesparlament. Damit wirbeln die Newcomer, deren Schwerpunkte bei Internetthemen liegen, auch die Parteienlandschaft durcheinander, zumal die FDP den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus verpasste.

Bei der Wahlparty in einem Club in Berlin-Kreuzberg war die Überraschung und die Freude riesengroß. Zwei Piraten feierten sich überschwänglich mit den Worten: "We made it - Wir haben es geschafft" und umarmten sich.

Der Berliner Spitzenkandidat der Piratenpartei, Andreas Baum (33) sagte nach den Hochrechnungen lässig: "Wir gehen jetzt in die Arbeit rein. Wir werden von uns hören lassen." Schon vor Tagen hatte er selbstbewusst eine unbequeme Oppositionsarbeit angekündigt.

Piratenwähler: Protestierer, jung, männlich

Die aus der "Generation Internet" entstandene Partei ist politisch unerfahren. Sie traf aber offenbar den Nerv vieler junger Wähler und konnte nach der Einschätzung von Meinungsforschern auch bei den bisherigen Nicht-Wählern und im linken Lager punkten. Die Kandidaten sind selber um die 30 Jahre alt, was zu einer Verjüngung im Abgeordnetenhaus führen könnte. Politikwissenschaftler sprachen den Piraten bei der Wahl auch eine Art "Protestventil" zu. Sie kämen angesichts der Politikverdrossenheit mit ihrem Image als noch unverbrauchte Jungpolitiker an.

Wie überrascht die Piraten selber von ihrem Erfolg waren, macht der Blick auf ihre Landesliste deutlich. Die Partei könnte um die 14 Sitze im Abgeordnetenhaus gewinnen, die schmale Liste der Partei umfasst nur 15 Kandidaten. Auch bei der Wahlparty schienen die Piraten auf den großen Andrang nicht eingestellt. Viele Sympathisanten der Partei mussten aus Sicherheitsgründen draußen bleiben, denn gegen 18.00 Uhr war das Limit von 1.000 Gästen erreicht.

"Das ist bombastisch", sagte Oliver Höfinghoff, der mit Platz 5 auf der Piratenliste ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde. "Mit diesem Ergebnis hätten wir nie gerechnet." Die meisten Piraten bei der Wahlparty an diesem Abend sind männlich, jung und computeraffin. Doch auch einige Frauen tummeln sich in dem festlich geschmückten Raum in einem Hinterhof eines alten Backstein-Industriegebäudes. Viele Unterstützer seien mal Anhänger der Liberalen gewesen, meinte ein neues Mitglied strahlend. Er sei Unternehmer in der Finanzbranche, aber mit dieser FDP könne er nichts mehr anfangen.

"Wir lernen schnell"

Die Piraten - bisher nur in einigen Kommunalparlamenten vertreten - wollen den eingefahrenen Politikbetrieb aufmischen. Zwar räumen die Neulinge auch Nachholbedarf offen ein, sie wollen aber vor allem anders Politik machen. Ihre Anliegen: Mehr Transparenz im Parlament, mehr Bürgerbeteiligung und keine "Geheimverträge" mehr, forderten die Piraten, denen Parteitaktik und Lagerdenken bislang fremd sind.

Der gradlinig wirkende Spitzenkandidat, der zu Hause ohne Fernseher auskommt, gibt zu, daß der Politikalltag für die Piraten noch unbekanntes Terrain ist. Aber auch wenn das Wahlprogramm Lücken aufweist, zeigt sich der in Kassel geborene Internetfachmann selbstbewusst: "Wir sind sehr schnell, was das Lernen angeht."

Die Neulinge müssen sich nun vom Image der reinen Internetpartei lösen. Ihr Wahlprogramm wies etliche Lücken auf, wenngleich sie auch sozialpolitische Themen aufnahmen. Dazu gehören Mindestlöhne und ein gesichertes Grundeinkommen, aber auch eine Liberalisierung beim Umgang mit Cannabis und einen kostenlosen Nahverkehr.

SPD gewinnt Berlin-Wahl: Rot-Grün und Rot-Schwarz möglich

Die SPD hat die Abgeordnetenhauswahl in Berlin klar gewonnen und kann nun mit Grünen oder CDU eine Koalition bilden. Der zum dritten Mal erfolgreiche Regierungschef Klaus Wowereit will mit beiden Parteien Sondierungsgespräche führen. Das seit fast zehn Jahren regierende rot-rote Bündnis hat keine Mehrheit mehr. Zunächst beraten heute (Montag) die Parteigremien in Berlin auf Bundes- und Landesebene über den Wahlausgang.

Die SPD blieb in der Hauptstadt trotz leichter Verlust stärkste politische Kraft. Hinter ihr landete die CDU, die sich im Vergleich zur Wahl 2006 etwas verbesserte. Die FDP flog bereits zum fünften Mal in diesem Jahr aus einem Landesparlament. Die bislang mitregierende Linke verschlechterte sich leicht. Die Grünen legten deutlich zu, Sie holten ihr bisher bestes Ergebnis in Berlin, blieben aber hinter ihren Erwartungen zurück.

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis kommt die SPD auf 28,3 Prozent (minus 2,5). Die CDU wird zweitstärkste Kraft mit 23,4 Prozent (plus 2,1). Dahinter liegen die Grünen mit 17,6 Prozent (plus 4,5), die Linke mit 11,7 (minus 1,7) und die FDP mit 1,8 (minus 5,8). Die Piratenpartei kommt mit 8,9 Prozent aus dem Stand heraus sicher über die Fünf-Prozent-Hürde. Dies ergibt folgende Sitzverteilung im Berliner Abgeordnetenhaus: SPD 48, CDU 39, Grüne 30, Linke 20 und Piratenpartei 15.

Die Wahlbeteiligung lag mit 60,2 Prozent über dem Wert von 2006 (58,0). Zur Wahl aufgerufen waren 2,47 Millionen Bürger. Parallel zum Landesparlament wurden auch die Kommunalvertretungen neu bestimmt.

dpa