Der 11. September war mehr Verstärker als Ursache

Der 11. September war mehr Verstärker als Ursache
Wenn an den vergangenen zehn Jahren etwas überrascht, dann, wie wenig nachhaltig der 11. September 2001 in der Weltpolitik gewirkt hat. Das mag angesichts der Medienaufmerksamkeit überraschen, die der sogenannte Krieg gegen den Terror gefunden hat. Ein nüchterner Blick auf die großen globalen Prozesse kann dem furchtbaren Anschlag von 2001 aber nur marginale Effekte zubilligen, argumentiert Harald Müller, Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).

Der vielleicht prägendste Zug der Jahre seit dem 11. September 2001 ist der Aufstieg Chinas und – mit einigem Abstand – Indiens durch ihre immense wirtschaftliche Entwicklung. Der relative Positionsgewinn gegenüber den USA ist durch den "Krieg gegen den Terror" nicht ausgelöst, sondern lediglich beschleunigt worden. Dieser "Krieg" war indes nicht die naturgesetzliche Folge des Anschlags, sondern die spezifische Reaktionsweise einer in der Bush-Regierung verkörperten Weltsicht, in der Unilateralismus, Militarismus und die ganze Arroganz der Macht dominierten.

Die zweite prägende Entwicklung war und ist die Weltfinanzkrise, die durch den "Krieg gegen den Terror" nicht ausgelöst, sondern – durch das kriegsbedingte US-Haushaltsdefizit – auch nur verschärft wurde.

Die Krise hat ihren wesentlichen Grund in der Kombination von hemmungslosen Rüstungsausgaben, einer Steuerpolitik, die nichts anderes darstellt als "Klassenkampf von oben" und dem völligen Verzicht selbst auf minimale Regulierungen des Finanzmarkts. Auch hier erweist sich die Ideologie der die Republikanische Partei in den USA dominierenden Kräfte als verhängnisvolle Ursache, der 11. September bestenfalls als Verstärker.

Al Qaida blieb nur eine marginale Kraft

Von wesentlichem Interesse ist auch, was nicht geschehen ist: Die Herausforderung durch den globalen Terrorismus hat alle großen Mächte getroffen. Es hätte eine Konvergenz der Reaktionen, einen neuen sicherheitspolitischen Multilateralismus geben können. Dazu ist es nur in Ansätzen gekommen.

Warum nun führt der Pfad wiederum nach Washington? Die Bush-Administration hat in der rücksichtslosen Durchsetzung vermeintlicher amerikanischer Belange die vitalen Interessen von Partnern wie China und Russland immer wieder außer Acht gelassen und so die enormen Chancen auf eine nachhaltige Verständigung der Großmächte leichtfertig vergeben.

Aber auch zum "Kampf der Kulturen" ist es nicht gekommen. Al Qaida blieb eine marginale Kraft unter den Muslimen. Der erhebliche Schaden, der immer wieder angerichtet wurde, darf darüber nicht hinweg täuschen – er kennzeichnet nur die Chaos-Möglichkeiten, die einer Splittergruppe heute zu Gebote stehen. Zunächst stellten sich nahezu alle etablierten Regime in moslemischen Mehrheitsstaaten auf die Seite der Terroristenbekämpfer, von einer islamistischen Monarchie wie Saudi-Arabien bis hin zu den Demokratien Türkei und Indonesien. Als dann die muslimischen Völker selbst hier und da das Heft in die Hand nahmen – im "arabischen Frühling" – erwies sich, dass ihre Vorstellungen sich von denen der isolierten Terror-Organisation fundamental unterschieden.

"Für uns oder gegen uns" ist die falsche Frage

Die Forderungen lauteten auf Ende der Diktatur und soziale Reformen. Während islamistische Bewegungen beteiligt waren (oft eher am Rande wie in Ägypten), dominierten sie (vielleicht mit Ausnahme des Jemen) keineswegs. Umgekehrt nahmen sie moralische oder Luftunterstützung des Westens gerne hin, verbaten sich aber substantielle Einmischung in ihren eigenen Weg. Die Formel des "für uns oder gegen uns", von Präsident Bush kurz nach dem 11. September 2001 als Parole ausgegeben, läuft dort völlig ins Leere.

Was bleibt, ist aus deutscher Sicht der tragische Befund, dass wir aus Solidarität mit den USA Soldaten und Soldatinnen nach Afghanistan geschickt haben, während die Einsatzziele von der (berechtigten und machbaren) Zerstörung der dortigen Al-Qaida-Infrastruktur in die (zweifelhafte und wohl nicht erreichbare) Installierung eines demokratischen Systems nach westlichem Muster verwandelt wurden.

Anders als in Libyen oder Ägypten zeigt die afghanische Bevölkerungen nicht den erforderlichen robusten Widerstandswillen gegen die Rückkehr der Taliban, sondern verhält sich gegenüber dem Konflikt überwiegend passiv, wenn sie nicht sogar die militanten Islamisten unterstützt. Noch weniger kann die afghanische politische Elite imponieren, die unter dem Schutzschirm des Westens die von Außen ins Land gebrachten Ressourcen überwiegend zu eigenen Gunsten und deren ihrer Klientel verteilt.

Demokratie kommt am besten von innen

Was bleibt, sind drei Lektionen, die wir in Deutschland sorgfältig lernen sollten:

Erstens: So spektakulär und schockierend ein einzelnes Ereignis auch sein kann, sind die Tiefenprozesse der internationalen Politik doch mit hoher Wahrscheinlichkeit nachhaltiger.

Zweitens: Uneingeschränkte Solidarität mit dem großen Verbündeten kann nur sinnvoll sein, solange dieser Verbündete akzeptablen rationalen und moralischen Entscheidungskriterien folgt. Diese Lektion sollte angesichts der erschreckenden Kandidatenkür der amerikanischen Republikaner nicht vergessen werden.

Drittens: Demokratisierungsprozesse sind dann am erfolgversprechendsten, wenn sie – wie es sich bei einer Demokratie eigentlich gehört – von innen kommen und vom Volk selbst getragen werden. Die muslimischen Völker sind eminent demokratiefähig, aber es soll und muss eben ihre eigene Demokratie sein. Der Demokratieexport ist selten von Erfolg gekrönt. Er setzt zumeist eine Spirale von Intervention und Widerstand in Gang, die kosten- und verlustreich ist und kaum in einer blühenden Demokratie endet.


Prof. Dr. Harald Müller ist Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt.