Mögliche Stromengpässe im Winter sollen nicht mit einem abgeschalteten Atomkraftwerk als "Kaltreserve" aufgefangen werden. Stattdessen sollen mehrere Kohle- und Gaskraftwerke in West- und Süddeutschland in Bereitschaft gehalten werden. Das gab der Präsident der Bundesnetzagentur, Matthias Kurth, am Mittwoch in Berlin bekannt. Die Reservekraftwerke sollen die Versorgung bei wenig Wind und Sonne und zugleich hohem Stromverbrauch sicherstellen.
"Es bleibt uns erspart, ein Kernkraftwerk zu reaktivieren", sagte Kurth. Die Energiesituation in Deutschland werde aber für mehrere Jahre "sehr ernst bleiben", mahnte der Präsident der Bundesnetzagentur.
"Die Sicherheit muss uns das wert sein"
Der 45 Jahre alte Block 3 des Kohlekraftwerks in Mannheim, das Gaskraftwerk 2 Mainz-Wiesbaden, ein Kohlekraftwerksblock im saarländischen Ensdorf, das Gaskraftwerk Freimann in München und die Mineralölraffinerie Oberrhein sollen im Notfall zusätzlich Energie liefern. Dafür müssten die Netzbetreiber diese schnell verfügbaren Kapazitäten lediglich anfordern. Mehrkosten durch die konventionellen Kaltreserven müssen die Verbraucher über die Netzentgelte zahlen. "Die Sicherheit muss uns das wert sein", betonte Kurth.
Besonders die Rhein-Neckar-Region gilt als Empfänger des Stroms, weil hier durch den Ausfall mehrerer Kernkraftwerke Energie fehlen könnte. "Insgesamt haben wir in Deutschland zusätzliche, gesichert zur Verfügung stehende Reservekapazitäten in Höhe von 1009 Megawatt sowie sicher zur Verfügung stehende Reserveleistung in Österreich in Höhe von 1075 Megawatt ermittelt", sagte Kurth.
Bis 2022 sollen die verbleibenden Kernkraftwerke abgeschaltet werden
Mit der Entscheidung ist das Aus für alle acht nach der Katastrophe von Fukushima vom Netz genommenen Meiler endgültig. Bis 2022 sollen die verbleibenden neun Kernkraftwerke schrittweise abgeschaltet werden. Die Landesregierung in Baden-Württemberg hatte zuvor den Weg für den Verzicht auf ein "Stand-By"-AKW geebnet. Sie hatte sich bereiterklärt, dass in dem Kraftwerk in Mannheim fünf statt bisher vier Blöcke gleichzeitig in Betrieb sein dürfen. Dafür wird eine mögliche Erhöhung von Co2-Emissionen in Kauf genommen.
"Diese Entscheidung ist kein Grund, Entwarnung zu geben für das deutsche Netz", betonte Kurth. Bestimmte Stromleitungen, die fehlen, verschärften das Problem. Besonders wichtig in Norddeutschland sei der Bau einer Leitung von Hamburg nach Schwerin. Ein Knackpunkt ist zudem der Raum Hessen. Hier soll durch die Umrüstung eines Generators im nicht-nuklearen Bereich des stillgelegten Atomkraftwerks Biblis A die bessere Verteilung des Stroms sichergestellt werden.
Für ein Kernkraftwerk als Kaltreserve gibt es Sicherheitsbedenken
Die Netzagentur hatte im Juni von der Bundesregierung den Auftrag erhalten, bis Anfang September eine Entscheidung zu treffen und dafür eine umfassende Bestandsaufnahme gemacht. Als Kandidaten für ein "Stand By"-AKW galten unter anderem der RWE-Meiler Biblis B in Hessen und das EnBW-Kraftwerk Philippsburg I in Baden-Württemberg.
Die Bundesländer hatten darauf gedrungen, auf ein AKW als Reserve zu verzichten. Ein Kernkraftwerk als Kaltreserve hätte nach Schätzung der Regierung 50 Millionen Euro pro Jahr gekostet. Experten hatten kritisiert, dass es im Fall von Engpässen zu lange dauern könnte, bis ein Atommeiler wieder angefahren werden kann und Strom liefert. Kurth geht von bis zu 72 Stunden aus. Zudem gab es Sicherheitsbedenken.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte betont, dass nach Möglichkeit kein Kernkraftwerk als Kaltreserve dienen soll. Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) hatte hingegen darauf gedrungen, er begrüßte aber die gefundene Entscheidung. Zugleich betonte er: "Weitere Maßnahmen, etwa den Ausbau der Netze, müssen wir jetzt konsequent vorantreiben, um die Versorgungssicherheit auch im Zeitalter der erneuerbaren Energien zu gewährleisten". SPD, Grüne, Linke und Umweltverbände werteten die Entscheidung als das kleinere Übel.