Den Gegnern des Mega-Bahnprojekts Stuttgart 21 war es gelungen, ihren partikularen Widerstand gegen den Tiefbahnhof im Herzen der Schwabenmetropole als universalen Schwabenaufstand erscheinen zu lassen. Dies und das äußerst unglückliche Agieren der verflossenen schwarz-gelben Regierung Stefan Mappus sorgten für einen Wechsel zu Grün-Rot in Baden-Württemberg.
Für die sogenannten Wutbürger und ihre Freunde bei den Grünen galt damit das Projekt als gestorben. Dieser Eindruck verfestigte sich bei ihnen noch, als der bekennende Stuttgart-21-Gegner Winfried Hermann das Verkehrsressort in der grün-roten Koalition übernehmen konnte. Der Eindruck war von vornherein falsch. Denn die baden-württembergischen Sozialdemokraten, fast gleichstarker Partner der Grünen, sind mit großer Mehrheit Befürworter des Projekts – auch wenn sie das täppische Kommunizieren von Bahn und Vorgängerregierung zu Recht immer kritisierten.
Der vorsichtige Herr Kretschmann
Ob der inzwischen fast legendenreife SPD-Oberbürgermeister Ivo Gönner in Ulm oder die Sozialdemokraten in Tübingen: Die wirtschaftspolitisch und strukturpolitisch nach vorne denkenden Genossen stehen unverändert für das Bahn-Zukunftsprojekt ein. Würde Kretschmann zu den Wutbürgern auf die Barrikaden klettern und vollmundig das Projekt zerschlagen, wäre das der Anfang vom Ende seiner Koalition.
Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident, wusste das und hat es nicht vergessen. Von Haus aus Realo und Anhänger eines vernunftgesteuerten Pragmatismus ist ihm das grün-rote Regierungsprojekt auf mittlere Sicht zu wichtig, um unüberlegt, aber euphorisch den Projektgegnern mit sowohl strategisch als auch juristisch blauäugigen Aktionen das wunde Gemüt zu wärmen. Kretschmann ist vorsichtig, ehrlich vorsichtig. Schon vor der Wahl hat er nichts versprochen, was nicht zu halten ist; also steht er jetzt nicht in der Pflicht, den wohlständigen Verweigerern vom Stuttgarter Killesberg gefallen zu müssen. Und selbst sein Verkehrsminister scheint erkannt zu haben, was geht und was nicht.
Für grüne Realos ist das Bahnprojekt ein Fall für nüchterne Analyse. Nochmal: Es handelt sich weder um ein Kernkraftwerk noch um ein Stück mehrspurige Autobahn für den ungeliebten Individualverkehr, sondern um ein zukunftsorientiertes Vorhaben auf Schienen. Das mag den Bewohnern der Villenvororte von Stuttgart ans Herz gehen, wo man ungern für die nächsten 15 Jahre eine Riesenbaustelle unter Seniorenschlafzimmer haben möchte. Schon in Heilbronn oder Reutlingen, erst recht aber in Mannheim oder Freiburg ist Stuttgart 21 kein grünes Kernthema.
Arnd Brummer ist Chefredakteur des evangelischen Magazins "chrismon", Geschäftsführer des Hansischen Druck- und Verlagshauses und Chefredakteur von evangelisch.de.