Hier starben ihre Lieben: Angehörige besuchen Utøya

Hier starben ihre Lieben: Angehörige besuchen Utøya
Zum ersten Mal nach dem Massaker auf der norwegische Ferieninsel Utøya sehen Familien, wo ihre Angehörigen starben. Für einige dringend nötig, für andere zu früh, meinen Psychologen. Viele haben das Angebot genutzt.
19.08.2011
Von Theresa Münch

Neben dem Haupthaus auf der idyllisch gelegenen Ferieninsel Utøya weht noch immer die rote Flagge der Jungsozialisten-Jugend. Nicht auf Halbmast, denn nach dem schrecklichen Massaker, bei dem der Rechtsextremist Anders Behring Breivik vor rund vier Wochen 69 Jugendliche und Betreuer erschoss, sollte auf der Insel nichts verändert werden. Jetzt kann die Flagge auch einen Neuanfang signalisieren: Die Familien der Opfer und die überlebenden Jugendlichen kehren zurück auf die "Höllen-Insel". Boot für Boot setzen an diesem verregneten Tag zuerst die Angehörigen über. 50 der 69 Familien wollen sehen, wo ihre Lieben starben.

Eine Gelegenheit, Abschied zu nehmen

In einem langsamen Zug, fast alle in weißen Regenjacken, gehen sie über die Klippen. "Die Familien sollten als erste herkommen - bevor irgendjemand außer der Polizei Utøya betreten hatte", sagt Per Brekke vom Direktorat für Gesellschaftssicherheit. Sie sollten Antworten auf ihre ungestellten Fragen finden, aber auch "verstehen, warum die Jugendlichen die Insel so geliebt haben". Die Angehörigen werden von der Polizei streng abgeschirmt. "Wir wollen ihnen ein Gefühl der Sicherheit geben, damit sie sich ganz auf ihre Trauer konzentrieren können", sagt Brekke.

Die Polizei hat aufgeräumt auf Utøya, Patronenhülsen beseitigt, auch Blut. Die 69 Stellen, an denen die Leichen der Jugendlichen und Betreuer gefunden wurden, sind markiert. Jede Familie soll erfahren, wo genau ihre Tochter, ihr Sohn ums Leben kam. Mitarbeiter des Roten Kreuzes führen die Hinterbliebenen über die Insel, mit dabei sind Ärzte, Psychologen, christliche Priester und Imame.

"Konfrontieren mit der traurigen brutalen Wirklichkeit", nennt der Katastrophenpsychologe Lars Waiseth diese Trauerbewältigung. "Die Angehörigen hatten keine Chance, Auf Wiedersehen zu sagen und die letzte Ehre zu erweisen. So finden sie keine Ruhe." Egal wie traurig und unfassbar die Begegnung auf der Insel sei, "ein konkretes Bild zu haben, ist besser als quälende Ungewissheit". Viele Familien kämen aus Pflichtgefühl. Laut Waiseth helfen ihnen vor allem die Nähe zu den Toten und die Gemeinschaft mit anderen Hinterbliebenen.

Die Trauer soll nicht gestört werden

Für einige Familien aber sei die Fahrt zur Insel noch zu früh. Auch ein Teil der überlebenden Jugendlichen habe abgelehnt. "Trauer kommt immer in Wellen", erklärt Waiseth - "und für jeden anders". Dass 50 der 69 Familien zugesagt hätten, zeige aber auch, dass die Begegnung nötig gewesen sei. Genau wie ein Treffen am Samstag mit einigen der Jugendlichen, die das Massaker auf der Insel überlebt haben. Viele der Jugendlichen seien von Schuldgefühlen geplagt, sagt der Psychologe. "Sie fühlen, sie haben nicht genug geholfen - oder schämen sich, weil sie sich hinter jemand Größerem versteckt haben."

Viele der Hinterbliebenen treffen sich nach der Fahrt auf die Insel in einem Hotel in der Nähe des Tyrifjord-Sees - dort, wo sie vor vier Wochen verzweifelt versuchten, ihre Angehörigen anzurufen und dann die Nachricht von deren Tod bekamen. Dass sie hier und auf dem Weg zur Insel so stark abgeschirmt werden, hat auch mit den Erfahrungen nach dem Attentat zu tun, als sich Dutzende Journalisten auf die Überlebenden gestürzt hatten. "Da werden noch viele Fragen kommen", sagt Brekke. Für Kritik an den Medien und am Einsatz der Polizei auf Utøya sei jetzt aber nicht die Zeit. "Jetzt geht es um die Menschen und ihre Trauer."

dpa