Die Schneiders zum ersten Mal in Herrnhut

Die Schneiders zum ersten Mal in Herrnhut
Wo kommen die biblischen "Losungen" her, die wir täglich lesen? Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), und seine Frau Anne haben in dieser Woche den Ursprungsort in der Oberlausitz besucht.
19.08.2011
Von Katharina Weyandt

Wenn das Ehepaar Anne und Nikolaus Schneider morgens die "Losungen" las, kam ihnen öfter der Gedanke: "Wir sollten einmal Herrnhut besuchen." Das kleine Büchlein mit einem Spruch aus dem Alten und einem aus dem Neuen Testament für jeden Tag ist neben dem Herrnhuter Adventsstern das, womit die Brüdergemeine, die Evangelische Brüder-Unität (EBU), am bekanntesten ist. "Morgens die Losungen zu lesen, ist ein festes Ritual in der Familie", erzählt Nikolaus Schneider. Er selbst liest sie gern in der Urtextausgabe auf Hebräisch und Griechisch.

Nun sitzen sie im "Losungssaal" in Herrnhut, dem schmuck restaurierten winzigen Städtchen in der Oberlausitz, ganz im letzten südöstlichen Winkel Deutschlands. Das Handy wählt sich schon in ein polnisches Netz ein, und Tschechien ist auch nur wenige Kilometer entfernt. Hier hatte Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf 1722 evangelische Flüchtlinge aus dem Reich der Habsburger aufgenommen. Daraus hatte sich eine intensive Glaubensgemeinschaft entwickelt, ein Raum für neue Ideen wie die tägliche spirituelle Tageslosung, die von Haus zu Haus getragen wurde.

"Losung" kommt nicht von "losen"

Im Losungssaal werden in jedem Frühjahr aus einer gläsernen Schale mit fast 2.000 Sprüchen die 365 Verse für den nächsten Jahrgang herausgelost. Und zwar immer drei Jahre im voraus, damit genug Zeit für die Bearbeitung bleibt, erklärt Pfarrer Johannes Welschen, der gemeinsam mit dem Juristen Michael Schmorrde als Vertreter der Kirchenleitung - der "Direktion" der EBU - und dem Herrnhuter Gemeindepfarrer Friedrich Waas die Gäste empfängt. Die EBU ist eine Freikirche, aber der EKD angliedert.

Da die Schneiders bereits einen traditionellen Herrnhuter Stern zu Hause haben, bekamen sie bei ihrem Besuch in der Brüdergemeinde einen LED-Stern für den Schreibtisch geschenkt.

Der Titel "Losungen" komme übrigens nicht vom Losverfahren, sondern meine die "Parole" des Tages. "Im Französischen heißen die Losungen 'La Parole d'aujourd'hui'", fällt Anne Schneider ein. Ein weiterer Irrtum, den zuletzt Bundespräsident Christian Wulff beim Dresdener Kirchentag am Stand der Herrnhuter geäußert hatte, wird mit einem Schmunzeln genannt: Die Jahreslosung hat nichts mit Herrnhut zu tun, sondern sie von der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für das Bibellesen herausgegeben. Aber weil alle danach fragen, werden die nächsten Jahreslosungen und die Monatssprüche auch auf www.losungen.de bekannt gegeben.

"Wie geht es weiter, wenn die Sprüche ausgelost sind?" will Nikolaus Schneider wissen. Als erstes stellt der "Losungsbearbeiter" einen Vorschlag für den neutestamentlichen Zweittext und die "Dritttexte", Gebete und Kurzmeditationen, zusammen. In den vergangenen Jahren war es eine Losungsbearbeiterin, Pfarrerin Karin Wiedemann. Für 2014, den Jahrgang, der gerade bearbeitet wird, hat sie diese Aufgabe an Pfarrer Michael Salewski weitergegeben. Diese Rohfassung geht an einen Kreis aus Mitgliedern der Brüdergemeinen und anderen Kirchen, dem auch Manfred Kock angehört, Schneiders Vorgänger als rheinischer Präses.

Wenn ein Autor "gemeinfrei" wird

Jugendmitarbeiter sind darunter und eine Krankenhausseelsorgerin - sie versucht, die Texte mit den Augen eines Kranken zu überprüfen. Alle Helfer melden Änderungsvorschläge nach Herrnhut, die eingearbeitet werden - oder auch nicht. "Dann liegt das Manuskript auf meinem Tisch, erklärt Pfarrer Welschen, "Ich mache als 'Losungsdezernent' zusammen mit der bisherigen und dem jetzigen Losungsbearbeiter die Endredaktion."
Änderungen gibt es noch, wenn es der Lektorin des Schweizer Verlags, welcher die deutschen Losungen produziert, nicht gelingt, die Nachdruckrechte für Dritttexte zu einem akzeptablen Preis zu erwerben. "Das wird immer schlimmer", seufzt Johannes Welschen, vor allem bei den Autoren, welche ihre gesamten Rechte an einen Verlag abgetreten haben. "2014 wird Jochen Klepper gemeinfrei", sagt Welschen. Das heißt: 70 Jahre nach dem Tod unterliegt der gern zitierte Dichter nicht mehr dem Urheberrecht.

Dass ihr Losungsbüchlein von einem externen Verlag betreut wird und nicht wie die Sterne vor Ort hergestellt wird, war den Gästen neu. "Dann verdient ihr also nichts?" fragt Anne Schneider. "Das will ich nicht sagen, wir bekommen die Lizenzgebühren", wehrt Welschen ab. Doch wenn das Geschäft mit gedruckten Losungen abnimmt und künftig, wie geplant, eine digitale Vollversion verkauft werden soll, werde das Aushandeln der Abdruckrechte noch schwieriger. Wer nur Losung und Lehrtext auf seiner Website einbinden will oder daraus eine App für's Smartphone programmieren, dem gibt die Brüder-Unität schon seit Jahren eine kostenlose Lizenz.

Im Saal mit der weiß gestrichenen Holzausstattung im schlichten Herrnhuter Barock und den Familienporträts wendet sich das Gespräch zur theologischen Linie der Losungen, die für das Ehepaar Schneider oft den Impuls zur ersten fachlichen Diskussion des Tages liefert. Pfarrer Welschen sagt, dass es dazu viel Korrespondenz mit Losungslesern gebe und 2013 eine hochrangig besetzte Tagung zu dieser Frage geplant sei. Dass das Alte Testament das Leitmedium ist und das Verhältnis zum Neuen 50:50 ausgewogen ist, hebt Nikolaus Schneider positiv hervor: "Das Neue Testament wird aus dem Alten heraus ausgelegt. Zum Beispiel habe ich die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes, neu verstanden, als ich sie im Zusammenhang der apokalyptischen Visionen des Alten Testament gesehen habe."

Wichtige Grundlage für den Tag

Wenn viel Zeit ist, liest sich das Ehepaar Schneider die Losungstexte auch zusätzlich in der "Bibel in gerechter Sprache" oder einer anderen Übersetzung vor, erzählt die Religionslehrerin Anne Schneider später. Immer sind die Losungen eine wichtige Grundlage für den Tag. Auch die mit 22 Jahren an Krebs gestorbene Tochter Meike habe daraus Kraft geschöpft, erinnert sich Nikolaus Schneider: "Da spricht so ein Vers zu einem, wenn etwa am Tag eine ärztliche Untersuchung bevorsteht."

Vielleicht sind die Losungen so etwas wie "Hesla": Einen Zettel mit diesem Wort hatte Pfarrer Friedrich Waas in Tschechien auf einem PC gesehen und nachgefragt: "Aha, haben Sie auch die Losungen?" - denn das ist der Titel der tschechischen Ausgabe. Nein, wurde ihm erklärt, "Hesla" braucht man für den PC – das heißt einfach "Passwort".

Vom 6. bis 9. Oktober 2011 lädt die Brüder-Unität zur nächsten Reise an den Ursprungsort der Losungen ein.


Katharina Weyandt arbeitet als freie Journalistin für evangelisch.de und betreut den Kreis "Wenn die Eltern älter werden" in unserer Community.