Die Telefone klingelten sturm. Faxgeräte quollen über. E-Mails gingen nahezu im Minutentakt ein. Rund 1.000 Meinungsäußerungen und Anfragen erreichten in der ersten Augustwoche den Deutschen Presserat. Ausgelöst hatte dieses für das Organ der freiwilligen Selbstkontrolle der Presse ungewöhnliche Trommelfeuer "Bild". Das Blatt hatte mehrfach Fotos mutmaßlicher Straftäter ohne Pixelung veröffentlicht und war für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten vom Presserat auf Grund einer Beschwerde gerügt worden.
Dann die Offensive: Die Redaktion veröffentlichte das nicht bearbeitete Foto eines Mannes, der zurzeit vor Gericht steht. Mit der provokant zugespitzten Feststellung "Diesen Kindesentführer soll 'Bild' nicht mehr zeigen dürfen" forderte sie Leser auf, sich gegenüber dem Presserat dazu zu äußern, ob die Rechte eines Angeklagten höher zu bewerten seien als das öffentliche Interesse an Berichterstattung.
Zu wenig Öffentlichkeit
Die Kampagne von "Bild", meint der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker, "ist das Beste, was dem Presserat passieren konnte". Pöttker gehört zu einer ganzen Phalanx von Wissenschaftlern, die das Gremium wegen mangelnder Öffentlichkeit kritisieren. Der Vorwurf zielt in zwei Richtungen. Einmal findet die Überwachung der Einhaltung von berufsethischen Standards in der Presse auf der Basis der Publizistischen Grundsätze des Presserats weitgehend im Arkanbereich statt.
So hat sich der von Wissenschaftlern gegründete Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (FPS) die Aufgabe gestellt, die öffentliche Beobachtung dieser Selbstkontrolle zu verstetigen sowie "auf eine Verbesserung ihrer Transparenz" zu drängen. Insbesondere die nicht öffentlichen Beschwerdeverfahren sind dem Verein ein Dorn im Auge. "Wer im Namen der Öffentlichkeit auftritt", bemängelt Achim Baum, Professor für Journalismus und PR an der Hochschule Osnabrück und FPS-Mitglied, "muss seine Arbeit auch im Licht genau dieser Öffentlichkeit überprüfen und rechtfertigen können."
Zum anderen reißt sich das Gremium nicht gerade um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Nach Ansicht des Mainzer Universitätsprofessors Volker Wolff wäre der Presserat indes gut beraten, zu relevanten Entwicklungen der Presse öffentlich Stellung zu nehmen. "Er hat dazu die Kompetenz, tut es aber nicht", hält Wolff ihm vor.
Die Probleme sind hausgemacht
Kritik als moralische Standpauke? Tatsächlich sind ihre Ursachen jedoch wesentlich systembedingt. Die Distanz zur Öffentlichkeit resultiert primär aus der Konstruktion, mit der der Presserat seit Gründung 1956 bei Ausnahme der Jahre 1982 bis 1985 - da ruhte die Arbeit – weitgehend gut gefahren ist. Die vier Verbände der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger sowie der Journalistenorganisationen bilden den Trägerverein des Gremiums und entsenden jeweils sieben Repräsentanten in das Plenum.
De facto legt dieses Organisationsprinzip die Beteiligten auf strikte Kooperation fest. Konsensbildung im Zweifel auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies zeigt auch ein Blick in die Statuten, in denen keine Bestimmungen zu Mehrheiten für Beschlüsse zu finden sind. Außerhalb seines Hauptaktionsfeldes, Beschwerden wegen vermuteter Verstöße gegen den Pressekodex in Zeitungen, Zeitschriften, Pressediensten oder Telemedien mit Verlagsbezug zu prüfen und zu bewerten, hat das Plenum durchaus weitere respektable Aufgaben.
Etwa die, "Missstände im Pressewesen festzustellen und auf deren Beseitigung hinzuwirken". Bei staatlicher Willkür ist dies und war dies stets selbstverständliche Praxis. Doch laufen die beiden "Bänke" der Verleger respektive der Journalisten Gefahr, das Konsensprinzip im Falle öffentlicher Positionsbestimmung zu beschädigen, sollten solche "Missstände" im Verantwortungsbereich der Presse selbst liegen.
In Sonntagsreden pflegt der Presserat in allen Lagern von Medien und Politik als verdienstvolle Instanz zur Wahrung einer verantwortlichen Presse gerühmt zu werden. Dabei wird zumeist ein Faktor ausgeklammert, der für seine begrenzte Wirksamkeit nicht minder entscheidend sein dürfte. Mit den Worten Wolffs: "Ethos erodiert." Während bei oberflächlicher Wahrnehmung die presseethischen Grenzüberschreitungen nach ihrer Zahl und Schwere zuzunehmen scheinen - erinnert sei nur zuletzt an den Fall Kachelmann inklusive begleitenden Medienkampagnen von "Zeit" bis "Bild" -, muss die moralische Instanz der Medienethik hierzulande mit einem tendenziell sinkenden Budget für die Bewältigung ihrer alltäglichen Kärrnerarbeit auskommen.
"Wir müssen sparen"
Nach Angaben des Geschäftsführers des Presserats, Lutz Tillmanns, beläuft sich der Etat 2011 auf rund 767.000 Euro bei den Einnahmen und rund 745.000 Euro bei den Ausgaben. Die Verbände der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger bringen rund 369.000 Euro (jeweils die Hälfte), die Journalistenorganisationen rund 106.000 Euro (je 50 Prozent) ein, die Bundesregierung aus dem Haushalt des Staatsministers für Kultur und Medien 234.000 Euro. Weitere Einnahmen in Höhe von rund 58.000 Euro stammen aus den Entgelten von Verlegern ohne Verbandszugehörigkeit und anderen Quellen.
Mittlerweile ist der Aufwand für den Presserat für die Controller in der Verlagswirtschaft ein Merkposten geworden. Im Juni trafen die vier Trägerorganisationen den Beschluss, die Zuschüsse drei Jahre einzufrieren. Mit einer Erhöhung des Bundeszuschusses wird nicht gerechnet. Fazit laut Tillmanns: "Wir müssen sparen." In 2009 und 2010 seien höhere Ausgaben als Einnahmen zu verzeichnen gewesen, nicht zuletzt durch den Umzug von Bonn nach Berlin. "Diese schleppen wir in diesem Jahr als zusätzliche Altlasten in Höhe von circa 83.000 Euro mit." Der Etat 2011 sei nur deshalb ausgeglichen, weil der Zeitungsverlegerverband einen Überbrückungskredit zur Verfügung gestellt habe. Dieser müsse vom Presserat bis Ende 2013 sukzessive rückerstattet werden.
Medienethik auf low cost-Niveau? Kraftvolle Forderungen nach einer Erweiterung des öffentlichen Radius, nach mehr Öffentlichkeitsarbeit versagen sich da fast schon ganz allein. Wenn der Presserat schon Mühe hat, die Alltagsanforderungen zu bewältigen, wie sollte er sich dann zusätzliche Aufgaben vornehmen? Eine Aktion wie die von Springers "Bild" angestoßene erscheint in diesem Licht schon fast wieder kontraproduktiv.
Ralf Siepmann ist Medienjournalist und freier Autor in Bonn.