Wie der Mauerbau eine Kirchengemeinde teilte

Wie der Mauerbau eine Kirchengemeinde teilte
Schmerzliche Folgen der Teilung Berlins: Der Mauerbau riss die katholische Gemeinde Sankt Michael am Engelbecken entzwei. Die Gläubigen fanden nicht mehr zusammen.
14.08.2011
Von Vera Rüttimann

Am Engelbecken in Berlin-Kreuzberg stehen Passanten vor einem Plakat, das an den 50. Jahrestag des Mauerbaus erinnert. Der Text der dazugehörenden Infotafel handelt von der Sankt-Michaels-Kirche, die am 13. August 1961 in zwei Hälften geteilt wurde. Zu Mauerzeiten sah man von Kreuzberg aus nur noch die obere Hälfte mit ihrer prächtigen Turmspitze, die ein Erzengel krönt.

Für viele Künstler war dies ein attraktives Motiv. Ein iranischer Künstler gestaltete die Mauer künstlerisch in den 1980er Jahren einmal so, dass die Illusion entstand, man könne von West-Berlin aus durch die Mauer hindurch zur Michaelskirche spazieren. Nach dem Mauerfall wurde das Mauersegment mit diesem berühmten Motiv in den Vatikanischen Gärten ausgestellt. Es war ein Geschenk an Papst Johannes Paul II.

Einst eine blühende Gemeinde

Die jungen spanischen Touristen, die diesen Text aufmerksam lesen, können sich kaum vorstellen, dass sie mitten im ehemaligen Todesstreifen stehen. Sie wissen auch nicht, dass dort drüben die kriegsgeschädigte Kirche einer einst blühenden Gemeinde steht. 1861 eingeweiht, ist die Michaels-Kirche in Mitte die zweitälteste katholische Gemeinde, die nach der Reformation in Berlin gegründet wurde. Im Gemeindeleben engagierten sich damals viele Fabrikarbeiter, Handwerker und polnische Hilfsarbeiter, die in Berlin Arbeit fanden.

Die "Michaeliten“ waren weitum bekannt als Gemeinde, die sozial sehr aktiv war. So gründeten sie unter anderem einen "Mädchenschutzverein" und kümmerten sich um Arbeitslose. In der Michaels-Kirche gab es so am Sonntag fünf Gottesdienste. Gefeiert wurde in einem Seitenschiff der Kirche, da das Hauptgebäude am 3. Februar 1945 von Bomben schwer beschädigt wurde.

Georg Erner ist aktives Gemeindeglied in der neuen Sankt-Michael-Kirche an der Waldemerstraße, die hier in den 1960er Jahren entstand. Auch der 20-Jährige kann sich kaum vorstellen, wie sich das Leben dieser Gemeinde im Schatten der Graffiti-besprühten Mauer einst angefühlt haben muss. Er kennt nur die Berichte von Zeitzeugen und die Bilder aus dem Internet. Nur die doppelte Reihe Pflastersteine mit dem Schriftzug "Berliner Mauer 1961–1989" erinnert ihn daran, das hier das monströse Betonmonster eine Stadt teilte. In einer in der Kirche ausgelegten Broschüre erfährt er mehr über die Umstände dieser Trennung: Die Mauer durchlief mitten durch die Gemeinde. Der Großteil der Michaeliten in Kreuzberg war plötzlich von ihrer Kirche abgeschnitten, nur wenige hunderte Gemeindeglieder wohnten auf der anderen Seite, in Mitte.

Scharmützel mit der Polizei

Weiter liest Georg Erner, wie die Gemeinde, getrennt erst durch einen provisorischen Zaun, einmal in einer Prozession trotzig entlang des Grenzsteifens marschierte. Es kam dabei auch zu Scharmützeln mit der Polizei, die sie mit Tränengas bewarfen. Mutige Gemeindeglieder, erfährt Erner weiter, warfen die Rauchbomben wieder auf die andere Seite, zu den Polizisten. Da sich eine lange Trennung abzeichnete und die Mauerjahre ins Land gingen, entstand 1965 in Kreuzberg das neue Sankt Michael, in dessen Räumen Erner steht. Nur 200 Meter Luftlinien entfernt von der Mutterkirche in Mitte. Eine absurde Situation, in der sich die Beteiligten einzurichten hatten.

Zwei Menschen, die das Leben in dieser Rumpfgemeinde hautnah miterlebten, sind Susanne und Reinhard Herbolte, der 1984 hier seine Stelle als Gemeindereferent antrat. Als die beiden hier ankamen, war der Mauerbau schon mehr als 20 Jahre Realität und von Trennungsschmerz wenig zu spüren. Die beiden Gemeindeteile hatten sich längst in der Teilung eingerichtet. Sie entwickelten sich in den Mauerjahre komplett unterschiedlich: Während sich in Kreuzberg im Schatten der Mauer Studenten, Punks und Hausbesetzer ansiedelten, wahrten die Ost-Michaeliten in Mitte kirchliche Traditionen. Gottesdienst feierte die Gemeinde in einem Querschiff der Michaelskirche oder in der Kapelle des Marienstifts.

Reinhard Herbolte traf eine Gemeinde an, "in der nicht mehr viel Leben war". Aufgrund von Sanierungswellen zogen viele Gemeindeglieder weg, zudem herrschte im Schatten der Mauer "tote Hose". Eine Herausforderung für ihn und den Jesuitenpater Godehart Pünder, der 1983 von seinem Orden in diese Gemeinde geschickt wurde. Beide kümmerten sich um Gestrandete aller Art und taten alles, um Sankt Michael-West neues Leben einzuhauchen. "Das kostete viel Kraft, wir hatten damals aber auch sehr schöne Kontakte zu vielen kirchlichen Initiativen."

"Wir saßen in der ersten Reihe"

Herbolte setzte vor allem die eingeschlafenen Kontakte zu den Ost-Michaeliten auf seine Agenda. Häufig reiste er mit anderen West-Michaeliten nach drüben, gestaltete Gottesdienste mit oder nahm an Gemeindefesten teil. Das Ehepaar Herbolte wohnte direkt an der Berliner Mauer. "Wir saßen", sagt Susanne Herbolte lakonisch, "in der ersten Reihe." Sie sahen direkt auf Mauer und Todesstreifen, der an dieser Stelle besonders breit war. Heute wachsen hier neue Penthouseanlagen für Besserverdienende in die Höhe.

Als 1989 die Mauer fiel, war die Euphorie bei den Gemeindeteilen auf beiden Seiten immens. Man besuchte sich und feierte gemeinsam Gottesdienste. Schnell aber zeichnete sich schon in den ersten Nachwendemonaten ab, dass man sich fremd geworden war. Gottesdienstzeiten und Inhalte wurden als nicht mehr kompatibel empfunden. Die Gemeindeteile hatten unterschiedliche Vorstellungen über das, was eine gemeinsame Identität eines vereinten Sankt Michael sein könnte. Reinhard Herbolte und seine Frau Susanne erinnern sich an unzählige Diskussionen an Gemeindeabenden, die oft ergebnislos oder gar im Streit endeten.

Die Nachwendejahre verliefen in beiden Gemeindeteilen durch gesellschaftliche Umstrukturierungsprozesse eher zäh. Zudem waren die Folgen des harten Sparkurses des Erzbistums zu spüren. Die logische Schlussfolgerung war der Zusammenschluss mit einer anderen Gemeinde. So fusionierte Sankt Michael-Kreuzberg 2000 mit Sankt Marien-Liebfrauen in der Wrangelstraße. Sankt Michael-Mitte fusionierte 2003 mit der Domgemeinde Sankt Hedwig.

Die Gemeinden und ihre Identität

Dennoch konnten beide ehemaligen Rumpfgemeinden bis heute ihre Identität bewahren. Reinhard Herbolte sagt über die Arbeit in Sankt Michael-Kreuzberg: "Das Leben mit den Randständigen dieser Gesellschaft und der interreligiöse Dialog ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Gemeinde." Bis heute kümmern sich hier Sießener Franziskanerinnen um Drogen- und Alkoholabhängig. Regelmäßig zu Gast ist hier auch eine Gruppe um den bekannten Jesuiten Christian Herwartz, der hier mit Interessenten"„Straße-Exerzitien" durchführt. Für Reinhard Herbolte passt dies wunderbar an diesen Ort, weil Sankt Michael für ihn noch immer "eine Kirche nahe bei den Menschen ist".

St. Michael musste sich durch alle Zeitläufte stets neu erfinden. Dies tat Sankt Michael-West noch vor der Fusion mit Sankt Liebfrauen schon vor einigen Jahren. Regelmäßig finden hier die Stadtjugendmessen des Erzbistums Berlin statt. Die katholische Betonkirche ist stets rappelvoll, wenn satte Bassklänge den Raum füllen und Scheinwerfer alles in ein rötliches Licht tauchen. Due Jugendlichen kommen aus ganz Berlin hierher und setzen sich zu Füssen des Schmerzensmannes, einer leidenden Jesusfigur. Die "Toten Hosen" traten hier schon auf und immer wieder Theaterleute, die sich an der Interpretation eines Bibeltextes versuchen. "Die Stadtjugendmesse ist jedes Mal ein Erlebnis", sagt Helmut Jansen, Referent der Jugendkirche Berlin. Oft trifft er hier auf Jugendliche, die erstmals wieder einen Fuß über die Schwelle einer Kirche setzen. Im Schatten der einstigen Mauer ist neues spirituelles Leben entstanden – und das ist gut so.


Vera Rüttimann arbeitet als Fotografin und Journalistin in Berlin.