Erlebnislandschaft am früheren Todesstreifen

Erlebnislandschaft am früheren Todesstreifen
Sie ist die wichtigste Gedenkstätte der Teilung und deren Überwindung: die Bernauer Straße. Denn hier schnitt die Mauer eine Straße in zwei Teile. Dass es die Gedenkstätte gibt, ist auch Pfarrer Manfred Fischer zu verdanken. Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus wird nun deren Erweiterung der Gedenkstätte am Samstag von Angela Merkel und Christian Wulff eingeweiht.
12.08.2011
Von Cornelius Wüllenkemper

Nur an wenigen Orten tritt die Dramatik der deutschen Teilung und ihre Folgen so deutlich hervor wie in der Bernauer Straße in Berlin. Hier verlief die innerdeutsche Grenze zwischen den Häuserzeilen: Menschen seilten sich aus ihren Wohnungsfenstern auf die andere Seite ab, Fluchttunnel wurden gegraben. Hier sprengte das DDR-Regime 1985 die Kirche der evangelischen Versöhnungsgemeinde, die sich zufällig auf dem "Todesstreifen" der Grenzanlagen befand. Und am gleichen Ort brachen Bürger in der Nacht zum 11. November 1989 die ersten Segmente aus der Mauer. Heute ist die Bernauer Straße die wichtigste Gedenkstätte der Teilung und deren Überwindung. Am 13. August wird ihre Erweiterung eingeweiht.

Manfred Fischer ist derzeit ein sehr gefragter Mann. Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus wird der Pfarrer der evangelischen Versöhnungsgemeinde in der Bernauer Straße in Berlin gern als Zeitzeuge und Aktivist gegen die Teilung und das Vergessen derselben herangezogen. Seit 1969 lebt der gebürtige Frankfurter in Berlin, seit 1975 steht er als Pfarrer der Gemeinde vor, die wie keine andere deutsch-deutsche Geschichte geschrieben hat. Über Fischers Schreibtisch hängt eine Serie von Momentaufnahmen dessen, was seit 25 Jahre seine Arbeit bestimmt: die Sprengung der Versöhnungskirche, die sich nach der Errichtung der Mauer mitten in den Grenzanlagen der Bernauer Straße zwischen Berlin-Wedding im Westen und Berlin-Mitte im Osten befand.

Wachturm aus Stahl: Das Kunstwerk soll an die Überwachungstürme im "Todesstreifen" erinnern. Foto: epd-Bild/Ralf Zöller

Die Versöhnungsgemeinde hatte mit dem Mauerbau am 13. August 1961 von einem Tag auf den anderen ihre Kirche verloren. Das mahnende Symbol der Teilung und der Unfreiheit störte das SED-Regime so sehr, dass die Kirche, die mittlerweile verwaist auf dem gefürchteten "Todesstreifen" der Grenzanlagen stand, kurzerhand gesprengt wurde. "Dahinter steckte natürlich die Botschaft des Regimes an uns: Diese Kirche werdet ihr nicht mehr brauchen", sagt Fischer. Er erfuhr von der Zerstörung seiner Kirche während eines Studienaufenthalts in den USA. "Es war der Tiefpunkt unserer Gemeinde."

Den Schandfleckwollte man schnell und radikal aus Stadtbild und Bewusstsein drängen

"Symbole haben eine stille Kraft, Unmögliches zu verwandeln in Möglichkeiten" hatte Fischer 1985 bei der offiziellen Verabschiedungszeremonie des gesprengten Kirchengebäudes jenseits der 3,60 Meter hohen Betonmauer gesagt. Dass nur vier Jahre später seine Utopie zur Wirklichkeit werden würde, und das Unmögliche möglich wurde, konnte er selbst kaum glauben. Wurde doch gerade an der Bernauer Straße die Dramatik und Härte der deutschen Teilung und die scheinbar unversöhnliche Blockkonfrontation besonders eindringlich erlebt.

In dieser Straße, die die Mauer nach dem 13. August 1961 in zwei Teile schnitt, flüchteten Menschen mit einem beherzten Fenstersprung auf die Westseite, hier wurden dank des festen Erdreichs die bekanntesten und erfolgreichsten Fluchttunnel gegraben, und hier begannen die Menschen 28 Jahre später, nach der friedlichen Revolution die Betonmauer einzureißen.

Pfarrer Manfred Fischer beim Bau der "Kapelle der Versöhnung". Foto: epd-bild/version. 

Wenn die Bernauer Straße heute als wichtigste Gedenkstätte der Mauer und des Mauerfalls gilt, geht das einerseits auf ihre Geschichte und andererseits auf das Engagement der Versöhnungsgemeinde zurück. Denn bereits kurz nach dem Mauerfall wurde klar, dass die Stimmung in der Bevölkerung dem Motto der "Mauerspechte" folgte: "Die Mauer muss weg!" Den Schandfleck aus Beton und Stahl wollte man möglichst schnell und radikal aus Stadtbild und Bewusstsein drängen und trieb den Abriss dieses stärksten Symbols der Teilung voran.

Im Gemeindehaus ist seit mehr als zehn Jahren ein Dokumentationszentrum

Nach langwierigen Streitigkeiten über Eigentumsverhältnisse und Denkmal-historischen Zuständigkeiten zwischen BRD und der in Auflösung begriffenen DDR machte sich Pfarrer Fischer Anfang der 1990er Jahre gegen eine städtebauliche Umgestaltung des Viertels und den Komplettabriss der Mauer stark: "Die Kirche ist doch selbst eine Einrichtung, die der Gedenkkultur verpflichtet ist." Manfred Fischer kann heute auf die Erfolge seiner Arbeit zurückblicken. Am 13. August werden Kanzlerin Angela Merkel und Christian Wulff in seinen Gedenkgottesdienst zum 50. Jahrestag des Mauerbaus kommen und die Erweiterung der zentralen Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße offiziell einweihen.

Im Gemeindehaus der Versöhnungsgemeinde ist bereits seit mehr als zehn Jahren ein umfangreiches Dokumentationszentrum mit eindringlichen Filmen, Fotos, Tondokumenten und Archivalien aus der Zeit des Mauerbaus, der Teilung und des Mauerfalls untergebracht. An dem Ort, an dem vor 26 Jahren die Versöhnungskirche gesprengt wurde, steht heute die "Kapelle der Versöhnung", die gleichzeitig als Gedenkkapelle und als Kirche für die Gemeinde genutzt wird. Täglich finden hier Gedenkandachten für die 136 Todesopfer der Mauer statt. Neben seine Kapelle pflanzte Pfarrer Fischer ein Roggenfeld – ein biblisches Symbol des Lebens auf dem ehemaligen "Todesstreifen". Zudem erinnert heute ein durch zwei rostbraune Stahlwände eingerahmtes, 70 Meter langes, original erhaltenes Stück Grenzanlage als Denkmal an die Teilung der Stadt und "die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft".

Die fertiggestellte "Kapelle der Versöhnung" und das Kreuz der früheren Versöhnungskirch. Foto: dpa/Jens Kalaene.

Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus wird nun die Erweiterung der Gedenkstätte eingeweiht: neben einem originalen Grenzer-Wachturm, von dessen Plattform aus man das gesamte Areal überblicken kann, ist jetzt auf 1,3 km Länge entlang der Bernauer Straße eine historische Erlebnislandschaft entstanden, die Reste und Spuren der Mauer mit zahlreichen Info-Tafeln und ebenerdigen Markierungen und Hinweisplaketten auf ehemalige Fluchttunnel und Opfer der Grenze kombinieren. 1.450 dünne Stahlstangen entlang des ehemaligen Todesstreifen erinnern heute an die Mauer.

In diesem Jahr sollen rund 600.000 Besucher in die Bernauer Straße kommen

Gerade jetzt ist der Andrang auf dem insgesamt 4,4 Hektar großen Gedenk-Areal groß, steht die Stadt Berlin doch weltweit als Symbol der Trennung Deutschlands und Europas und der Konfrontation der Systeme. Bereits 2001 kamen 67.000 Besucher in die Bernauer Straße, in diesem Jahr rechnet man mit der zehnfachen Anzahl. Ohne Freiwillige ist der Besucheransturm aus Menschen jeden Alters und aus allen Teilen der Welt nicht zu bewältigen. Die Versöhnungsgemeinde hat derzeit zehn Jugendliche zu Gast, die am Gedenken an die Berliner Mauer mitarbeiten.

Slava, eine 24-jährige Deutschlehrerin aus der Slowakei, kennt die Vergangenheit der Teilung aus den Erzählungen ihrer Mutter und fühlt sich heute dem Gedenken verpflichtet. Sie führt täglich die Besucherströme durch die Fotoausstellung in der Kapelle der Versöhnung: die Bilder zeigen historische Aufnahmen von Kindern, die an der frisch gebauten Mauer spielen oder den Arbeitern staunend beim Aufbau des Beton-Ungetüms zuschauen. Die 21jährige Helferin Hae Yoon aus Süd-Korea wunderte sich zunächst, dass die Deutschen in diesem Jahr der Teilung ihres Landes gedenken, wo doch die Wiedervereinigung eigentlich mehr Grund feiern böte. "Aber durch die Teilung und ihre Folgen für die Menschen lernt man erst, wie auch die Wiedervereinigung möglich war", meint sie. "Ich bin sicher, dass ich hier trotz aller kultureller und politischer Unterschiede viel über unser Land und seine Zukunft lernen kann."


Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist in Berlin.