"Wir wussten, dass die Kommunisten Strolche sind"

"Wir wussten, dass die Kommunisten Strolche sind"
"Etwas Ungeheurliches war geschehen", so erlebte Joachim Gauck den Bau der Berliner Mauer. Der damals 21-Jährige studierte im Sommer 1961 evangelische Theologie in seiner Heimatstadt Rostock. In einem Gespräch mit evangelisch.de schildert Gauck, wie er die Abriegelung der deutsch-deutschen Grenze erlebte, warum er schon zuvor Kommunisten für Strolche hielt, denen die Interessen des Volkes egal sind - und warum die Deutschen trotz aller geschichtlicher Brüche "begabt für Freiheit" sind.
10.08.2011
Die Fragen stellte Karola Kallweit

Herr Gauck, wissen Sie noch, was Sie am 13. August 1961 gemacht haben?

Gauck: Ich war in Wustrow an der Ostsee und wachte auf. Es war ein Sonntag und ich war zu Besuch im Pfarrhaus. Dort waren auch einige Sommergäste, und wir bekamen mit, dass alle Berliner die Koffer packten und wie verrückt nach Hause wollten. Es war etwas Ungeheuerliches geschehen. In Berlin wurde eine Mauer gebaut und ich konnte es mir nicht vorstellen.

Waren Sie zu diesem Zeitpunkt manchmal in Berlin?

Gauck: Ich war eine Woche zuvor in West-Berlin und hatte sogar dort eine Wohnung angeboten bekommen. Ich hatte eine Frau und ein kleines Kind und wir lebten unter äußerst schwierigen, beengten Bedingungen. Eine Tante wollte aus West-Berlin wegziehen, nach Bayern, und bot uns ihre Wohnung an. Wir dachten, ja das ist schön, aber es ist ja auch Westen und wir wollten doch in der Heimat bleiben, konnten uns auch von der Ostsee nicht trennen. Das hing jetzt nicht mit der DDR zusammen, sondern mit Freunden und regionaler Heimat. Und dann haben wir das Angebot ausgeschlagen. Sagten, dass wir lieber am Wochenende zu Besuch kommen. Tja, das nächste Wochenende war der 13. August. Das war bitter.

Hatten Sie Angst?

Gauck: Nein. Es ist ja so, dass wir keine Illusionen hatten, was die Qualität der kommunistischen Herrscher betraf. Wir wussten, das sind Strolche und denen ist das Interesse der Bevölkerung egal. Wenn Kommunisten herrschen, dann verlieren sie entweder Schritt für Schritt oder ganz generell den Kontakt zur Bevölkerung. Das ist die große Crux kommunistischer Regime. Sie haben ein Hauptinteresse, und das ist die Sicherung ihrer Macht. Und das war uns nun schon bekannt. Und es gab ja auch schon eine Grenze, und man musste spezielle Erlaubnisse haben, um diese Grenze zu überwinden und zu Besuch in den Westen zu fahren, aber man bekam sie.

Hatte sich dieser 13. August für Sie vorher bereits angedeutet?

Gauck: Die aggressive Propaganda im Sommer 1961 des Staates, die ließ schon Übles vermuten. Nur dass es so radikal sein würde, das dachte man nicht. Jetzt sollte eine neue DDR beginnen.

Wie haben die Menschen damals reagiert?

Gauck: Einige wurden ganz rebellisch und haben dann auch später versucht, das Land zu verlassen. Andere haben sich in ihr Schicksal gefügt.

Was passierte mit denen, die sich in ihr Schicksal fügten?

Gauck: Das Gefühl der Abgeschlossenheit hatte gravierende Folgen - hauptsächlich darin bestehend, dass die Leute alle vorsichtiger wurden und dass das Anpassungsverhalten die dominante Überlebensstrategie wurde. Es wurde weniger offen diskutiert – an Schulen, an Universitäten, in Betrieben und das sollte sich immer mehr steigern, bis wir nachher eine totale angepasste Gesellschaft haben würden. So wie man sich in früheren Jahrhunderten unter einen harten König fügte und Gehorsam eingeübt hat, um Sicherheit herzustellen. So wurden Gehorsam und Anpassung das eigentliche Element, das den Leuten dann so eine Berechenbarkeit erlaubte. Also ich kann mein Schicksal ja gestalten, ich muss nur brav sein.

Und was war es bei Ihnen?

Gauck: Bei mir wurden Trotz und Protest gestärkt. Ich war zuvor schon überzeugt, dass das kommunistische Regime auf Lüge und Unterdrückung aufgebaut war, und das war im Grunde für mich jetzt der letzte Beweis. Was ich schon als Kind wusste und als Jugendlicher jeden Tag neu erlebte, das hat sich jetzt ganz augenfällig dargestellt. Ein Regime, das, um seine eigenen Leute bei sich zu behalten, sie einsperren muss, dem ist das Interesse der Bevölkerung egal.

Das heißt, Ihnen war damals schon klar, dass Sie in einen inneren Widerstand gehen?

Gauck: Ja selbstverständlich. Das war mir schon lange klar. Ich hatte ja schon in den 50er Jahren die Strategie der stalinistischen Zeit erlebt. 1952/53 war die evangelische Jugend beispielsweise zu einer faschistischen Organisation erklärt worden. Junge Leute die Mitglied der Studentengemeinden waren, der evangelischen Jugend, der jungen Gemeinde waren, wurden vom Abitur ausgeschlossen oder von ihren Studienorten verbannt, wenn sie nicht abschwörten. Wenn man im Herbst 1959 zum Herbstsemester anfing, etwas Pädagogik in Güstrow studieren zu wollen, dann ist einem im Foyer der Hochschule schon ein Aushang aufgefallen, wo noch die Bilder der relegierten Studenten zu sehen waren, die nicht von der evangelischen Studentengemeinde lassen wollten. Und weg waren sie. Wer wollte, konnte den repressiven Charakter des Systems überdeutlich sehen.

Und wie sah politisches Engagement als junger Pastor dann aus?

Gauck: Also zunächst musstest Du Dich umfassender informieren, als es der Staat für dich vorgesehen hatte. Das heißt, Du musstest die Informationsquellen erschließen, Deine Freundeskreise, die Du noch im Westen hattest aktivieren, dass sie Dir Bücher schicken. Das mit dem Bücher schicken wurde zunehmend schwieriger, in späteren Zeiten wurde fast jedes Buch aus den Paketen herausgenommen. Aber Anfang der 60er ist noch vieles angekommen. Wir haben eben nicht nur theologische, sondern auch schöngeistige Literatur bekommen, mal auch politische Literatur. Das ist nachher immer stärker verfolgt worden. Dann musste man sehen, dass man sich eben über den Westrundfunk aufklärte, Zeitungen aus dem Westen gab es nicht. Und später gab es das Fernsehen.

Aber es braucht auch Gleichgesinnte, wie haben Sie die gefunden?

Gauck: Man musste Menschen finden, die mit einem zusammen dachten, und in der Kirche fandest Du eben solche Menschen. Man konnte sie auch außerhalb der Kirche finden, aber da war es schwieriger. Da musste erst mal Vertrauen wachsen und es gab ja auch unter verschiedenen Studentengruppen – wenn ich an meine Pharmazeuten denke oder Tiermediziner oder Mediziner – es gab immer auch Cliquen, wo man eigenständig und antisozialistisch gedacht hat, aber in der Kirche war es halt einfacher, solche Leute zu treffen.

In der DDR gab es eine sehr sichtbare Grenze. In der Laudatio für David Grossmann im letzten Jahr haben Sie den Satz gesagt, wir lebten ein wahres Leben im falschen. Jetzt frage ich mich, ob wir heute unsichtbare Mauern haben, zwischen informierten Menschen und uninformierten Menschen, zwischen armen Menschen und reichen Menschen? Leben wir heute ein falsches Leben im richtigen?

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Gauck: Das ist ja immer so. Es gibt nie die Situation, dass in einer akzeptablen und guten Gesellschaft nur gute Lebensentwürfe gelebt werden. Und deshalb müssen wir ja auch diejenigen Kulturträger wie Kirchen und Gemeinden aber auch die Künste schätzen, die uns unsere Bezogenheit lehren, dass wir nicht nur einzelne Individuen sind, sondern dass wir unser Lebensglück nur erreichen, wenn wir das Prinzip der Bezogenheit leben, auf andere Menschen und auf andere Werte bezogen bleiben. Wir können nur einladend leben. Und der Staat kann Haltungen fördern, die dem Allgemeinwohl dienen. Das können wir tun aber wir können sie nicht zwingen. Das ist die große Gabe der freiheitlichen Gesellschaften.

Können Sie das näher erläutern?

Gauck: Dass sie eben Freiheit nicht nur definieren als die Freiheit, das Ich herauszustellen und immer mehr zu stärken, sondern als Freiheit zu etwas und für etwas zu leben. Diese Gesellschaften, die von vielen nur als kapitalistische gescholten werden, sind die großen Freiräume für menschenrechtliches Handeln. Für die Herstellung der Herrschaft des Rechtes, der Freiheit, der Kultur und der Kommunikation, des Austausches von Ideen.

Ein kurzer Exkurs: Wie schätzen Sie die den Arabischen Frühling ein?

Gauck: Ich bin glücklich über die Gesichter der Menschen, über die Aktivitäten derer, die über Jahrzehnte gelernt haben Untertan zu sein. Das erinnert mich enorm an Osteuropa und die DDR von '89. Mir kommen diese Gesichter bekannt vor und die Haltungen auch. Was jetzt schwierig sein wird: Bei uns in Deutschland hatten wir eine große räumliche und gedankliche Nähe zu den Ideen des Westens, zu den parlamentarischen Demokratien. Im arabischen Raum gab es diese Entwicklung so nicht.

Noch einmal zurück nach Deutschland. Die Jubiläen haben sich in den letzten Jahren gehäuft. 20 Jahre Mauerfall, 20 Jahre Einheit und nun Gedenken an den Mauerbau vor 50 Jahren. Man könnte meinen, dass man irgendwann genug hat von so viel Erinnerung.

Gauck: Man darf eine unschuldige Generation nicht mit Schuld infizieren. Man muss wissen, was Vorgängergenerationen gemacht haben, aber man darf nicht Unschuldige schuldig machen. Es ist nicht nur ein falscher pädagogischer Ansatz, sondern auch ein falscher politischer, weil er die Tendenz enthält zu entmächtigen. Es ist so wichtig, dass sich unsere Nation die Begabung zur Freiheit ins Gedächtnis ruft, die wir immer sehen, wenn wir den Mauerfall feiern. Wir sind begabt für Freiheit. Wir können Freiheit. Das ist das große Thema, das ich gerne stärker vermittelt sehen möchte.


Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, ist einer der bekanntesten evangelischen Pfarrer in Deutschland. Während der friedlichen Revolution in der DDR wurde er führendes Mitglied des Neuen Forums, das später in der Partei Bündnis 90/Die Grünen aufging, und Mitglied der Volkskammer. Von 1990 bis 2000 leitete er die Stasi-Unterlagen-Behörde. Heute ist Gauck unter anderem Vorsitzender der Vereinigung "Gegen Vergessen – Für Demokratie". Im vergangenen Jahr kandididerte er für SPD und Grüne um das Amt des Bundespräsidenten und unterlag Christian Wulff nur knapp.

Karola Kallweit ist freie Journalistin in Berlin und Frankfurt a.M. und schreibt regelmäßig für evangelisch.de.