Walter Sittler muss sich am Freitagmorgen auf dem Stuttgarter Marktplatz wie ein Stadionsprecher beim Fußballspiel vorkommen: "Hannes Rockenbauch!", "Brigitte Dahlbender!", "Egon Hopfenzitz!" Jedesmal, wenn der Schauspieler einen Namen der Stuttgart-21-Gegner in der Schlichtung vorliest, reagieren die Anhänger mit lautem Applaus, Gejohle und Jubelrufen. Ganz anders bei den Namen "Volker Kefer" und "Wolfgang Schuster": Pfiffe, Trommeln und laute "Buh2-Schreie für den Bahn-Vorstand und den Stuttgarter Oberbürgermeister.
Einige hundert Menschen harren am Freitag stundenlang vor dem Rathaus aus und schauen auf einer Großbildleinwand dabei zu, wie drinnen über Taktzeiten, Sicherungstechnik und Gleisspuren diskutiert wird. Wer hier steht, zählt zu den härtesten Gegnern des Tiefbahnhofs. "Wahrheit in Geißler-Haft" hat jemand auf sein Transparent gedruckt oder "S21 = Mafia".
Wenn am Schlichtungstisch im 4. Stockwerk ein Befürworter von den Vorzügen des neuen Bahnhofs spricht, sind sie unten kaum zu halten. Viele stöhnen, buhen, äußern ihren Spott mit lauten Trillerpfeifen und Geschrei. Dadurch sei vieles nicht zu verstehen, mahnt Sittler: "Wenn es euch möglich ist, hebt es euch auf!" Diese Anregung bleibt ungehört. Als Schlichter Heiner Geißler zu seiner Sitzungsrunde sagt, man wolle doch offen miteinander umgehen, höhnt einer auf dem Marktplatz laut: "Das wäre ja das erste Mal."
Im Sitzungssaal geht es ein bisschen wie im Stadion zu
Etwas gemäßigter geht es bei einem weiteren Public Viewing in der Stadt zu. In einem abgedunkelten Saal im Rathaus sitzen rund 200 Menschen und verfolgen das Geschehen ein Stockwerk höher. Sogar einige Befürworter sind hier auszumachen. Mit großen "I love S21"-Buttons sitzen sie in den vorderen Reihen und freuen sich besonders über Geißlers süffisante Kommentare zu den forschen Einwürfen von Hannes Rockenbauch, dem Sprecher des Aktionsbündnis der Projektgegner.
Auch im Sitzungssaal geht es ein bisschen wie im Stadion zu, denn die Pfeifkonzerte von draußen sind gut zu hören. Ein paar Mal platzt dem früheren CDU-Generalsekretär Geißler fast der Kragen. Als er meint, das Projekt Stuttgart 21 sei ja mehr als nur die 49 Züge, die künftig durch den Tiefbahnhof fahren sollen, fragt Rockenbauch: "Sind Sie jetzt Bahn AG?" Er solle sich mit solchen Bemerkungen gefälligst zurückhalten, poltert Geißler.
Dann deutet der Grünen-Verkehrsexperte Boris Palmer an, das Schweizer Gutachterbüro sma sei nicht neutral, weil es sich für einen Auftrag der Bahn bewerbe. Geißler pfeift den Tübinger OB zurück: "Ich werde es nicht zulassen, dass man die Gutachter unter Verdacht stellt." Am Nachmittag versucht Palmer, das Gutachten auseinanderzunehmen. Als Bahn-Vorstand Kefer Palmers Vorstellungen ins "Wolkenkuckucksheim" verweist, ist es soweit: Durch verschlossene Fenster schallen die Rufe "Lügenpack".
Bahn wiederholt zentralen Bestandteil des Stresstests
Schließlich erklärt die Bahn sich bereit, den zentralen Bestandteil des Stuttgart-21-Stresstests zu wiederholen. "Diesen weiteren Simulationslauf kann man relativ kurzfristig machen", sagte Bahn-Technikvorstand Volker Kefer im Stuttgarter Rathaus. Dies sei jedoch kein zweiter Stresstest, wie ihn die Gegner des Bahnprojekts fordern.
Laute Aufrührer unten, Diskutanten oben - ruhiger ist es in der restlichen Stadt. Auf dem nahe gelegenen Schlossplatz laufen die Aufbauarbeiten für ein Autofest und selbst an der seit über einem Jahr am Hauptbahnhof stehenden Mahnwache laufen nur die üblichen Bauzaun-Schaulustigen herum. Die nächsten Wochen werden für die Stimmung zum Projekt entscheidend sein, hatten Experten gesagt: Seit einiger Zeit schon wirkt die Stadt ein wenig protestmüde; eine ruhige Schlichtung könne diese Lethargie noch befördern, doch die Gegner geben nicht auf: Die angekündigte Volksabstimmung im Herbst wollen sie nutzen, um noch einmal durchzustarten.
Beim Projekt Stuttgart 21 wird der bisherige Kopfbahnhof in der Landeshauptstadt zu einem Durchgangsbahnhof unter der Erde umgebaut. Außerdem soll der neue Bahnhof an die geplante Schnellbahntrasse zwischen Wendlingen und Ulm angeschlossen werden. Die Schätzungen der Bahn gehen von 4,1 Milliarden Euro Kosten aus, plus 2,9 Milliarden Euro für die Schnellbahnstrecke. Im Februar 2010 war Baubeginn.