Der Mann hat kein bestimmbares Alter. Er könnte 60 sein, vielleicht auch Ende 30. Um den kahlen Kopf ziehen sich die letzten Haare von Musa Mohammed Ibrahim wie ein grauer Kranz. Seit 1991 ist der Somalier schon im kenianischen Flüchtlingslager Dadaab, geflohen vor dem wenige Monate zuvor entbrannten Bürgerkrieg in seiner Heimat, der bis heute nicht zu Ende ist. Seitdem grübelt Musa über die zwei immer gleichen Fragen: Warum er hierherkommen musste, und wie lange er noch bleiben muss.
"Ich fühle mich nicht gut, wenn ich von jemandem abhängig bin, obwohl ich gesund bin und für mich selbst sorgen könnte", sagt er auf dem Boden seiner Hütte sitzend. Das Dach und die Wände sind im Laufe der Jahre immer löchriger geworden, zwischen den tragenden Ästen klaffen Lücken. Die blaue Plastikplane ist längst zerrissen, und Musa versucht seitdem, sich mit Getreidesäcken, Stoffresten und Plastiktüten gegen Wind und Staub zu wehren.
Abend für Abend rollt der dünne Mann seine Matte aus, setzt sich mit seiner Frau und seinen zwei Kindern hin, und sucht dann in den Worten aus dem Radio nach einem Anzeichen dafür, dass sich für ihn doch noch irgendetwas verändert. Dass ein Frieden in seiner Heimat Somalia denkbar wird. Dass er vielleicht nach Hause zurückgehen kann.
"Ich lebe hier wie ein Gefangener"
Stattdessen kommen immer mehr Menschen. Sie fliehen vor Krieg und Dürre in Somalia. Jeden Tag treffen laut UN derzeit 1.300 Menschen in Dadaab in der Nähe der Grenze zu Somalia ein. "Ich lebe hier wie ein Gefangener", sagt Musa. In seiner Heimat, der Stadt Kismayo im Süden Somalias, verdiente er sein Geld mit Viehhandel. Innerhalb weniger Tage brach alles zusammen: Die Kämpfe erreichten sein Viertel, die ersten Verwandten starben, sein Besitz wurde geplündert, und Musa brach auf, ohne ein Ziel vor Augen, er wollte nur weg.
Mit seiner Frau und der damals einjährigen Tochter erreichte er zu Fuß und auf Lastwagen die Grenze nach Kenia. Vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wurde er Wochen später nach Dadaab gebracht. Durch die ungewohnte Nahrung erkrankte er für Monate. Geschwächt und ratlos verweigerte Musa sich seinem neuen Leben als Flüchtling. Dann gab er seinen sinnlosen Widerstand auf und stellte sich dem Leben im Lager. "Wir müssen uns mit dem arrangieren, was man uns gibt. Überlebt jemand - gut. Stirbt jemand - dann beerdigen wir ihn."
Obwohl er bis auf die Knochen abgemagert ist, hat er all die Jahre immerhin überlebt, konnte seine Frau und seine Kinder durchbringen. Und nicht nur das: Seine Kinder konnten im Lager in eine der Schulen gehen, die von den Vereinten Nationen betrieben werden. Sie hatten Glück, wenn man so will, denn in Somalia gibt es kaum Schulen.
"Zu Hause sehe ich keine Lösung"
Seit dem Sturz des letzten Diktators Siad Barre hat das Land keine Regierung mehr, die das ganze Staatsgebiet kontrolliert. Die jetzige Übergangsregierung hat nicht einmal die Hauptstadt Mogadischu ganz in ihrer Gewalt. Auch die meisten Teile des Landes sind in der Hand radikaler Islamisten.
"Ich versuche, mich in die Leute hinein zu versetzen, die uns in diesem Lager versorgen", sagt Musa. Er könne verstehen, dass Kenia nicht immer noch mehr Flüchtlinge aufnehmen will. "Nur, wenn ich mir die Situation zu Hause ansehe - da sehe ich keine Lösung. Ich sehe überhaupt keine Lösung." Seine Augen liegen in tiefen Höhlen, unter der Gesichtshaut zeichnet sich sein Schädel ab.
Musa ist einer von wenigen im Lager, die feste Lederschuhe tragen und nicht Badeschlappen aus Plastik. Sie sind nicht ladenneu, sondern ausgetreten und staubbedeckt, aber der Mann ist auf sie stolz. Mehrere Wochen lang hat er immer wieder Mahlzeiten ausgelassen und das Getreide stattdessen zurückgelegt, bis er genug hatte, um solche Schuhe auf dem Markt von Dadaab zu kaufen. Er hat sich dafür, wie er sagt, "ein Stück aus dem Magen geschnitten." Sie waren diesen hohen Preis wert, findet er, denn sie helfen ihm, seine Würde in der Armut zu bewahren.