Hölle auf Utøya: "Glaubte, ich sei die einzige Überlebende"

Hölle auf Utøya: "Glaubte, ich sei die einzige Überlebende"
Es sind Kinder und Jugendliche, die auf der idyllischen Insel Utøya einen unglaublichen Massenmord erlebt haben. Ihre Geschichten sind grausam, blutig und unendlich traurig. Doch alle sollen erfahren, was geschehen ist, meinen die Überlebenden.

"Erschieß mich nicht. Du hast jetzt genug geschossen. Du hast meinen Papa erschossen, ich bin zu jung zum Sterben" - diese Worte habe ein kleiner Junge auf der norwegischen Ferieninsel Utøya zu Attentäter Anders Behring Breivik gesagt, berichtet Adrian Pracon, der das Jugendcamp dort mitorganisiert hat. Der Kleine habe das Massaker überlebt, genau wie Pracon und viele andere Jugendliche, die jetzt ihre grausamen Geschichten erzählen. Fast 70 ihrer Freunde starben - sie sahen zu, wurden selbst verletzt oder überlebten, weil sie sich tot stellten.

"Ich tat, als sei ich tot"

Die 16-jährige Ingvild Stensrud lag mit toten Menschen auf und unter sich - sie hörte, wie der Attentäter zwischen den Schusssalven jubelte. "Ich tat, als sei ich tot", sagt sie dem Fernsehsender NRK. Dann habe sie gehört, die Breivik seine Waffe nachlud: "Das war der schlimmste Augenblick in meinem Leben". Breivik schoss ihr in den Fuß, alle um sie herum starben. Nach einer halben Stunde hätten alle Handys angefangen zu klingeln. "Es klingelte und klingelte, aber keiner ging ran. Ich glaubte, ich sei die einzige Überlebende."

Anders Behring Breivik richtete ein unfassbares Blutbad an. In etwas mehr als einer Stunde - von kurz nach 17 Uhr bis 18.27 Uhr, als er von der Polizei festgenommen wurde - tötete der 32-Jährige 68 Jugendliche. Im kleinen Norwegen mit einer Einwohnerzahl von nicht einmal fünf Millionen dürfte fast jeder eine Verbindung zu den Opfern haben. Breivik habe Projektile genutzt, die im Körper auseinanderfielen und riesige Schäden anrichteten, sagte Chirurg Colin Poole der Zeitung "Dagbladet". "So etwas habe ich noch nie gesehen."

Stundenlang bei zwei Grad in der Kühlkammer versteckt

Jedes Mal, wenn der Attentäter einen der um ihr Leben schwimmenden Jugendlichen getroffen habe, sei eine rote Fontäne aufgespritzt, sagte Organisator Pracon. Diejenigen, die sich in den See retten konnten, hätten sich nicht getraut, ans Festland zu schwimmen, erzählt Tim Viskjer. "Wir hatten Angst, auf der anderen Seite wartet jemand, der auch auf uns schießt."

Sie alle hätten die Hölle auf der Insel erlebt, beschreibt auch der 19-jährige Tarjei Jensen Beck: "Denk dir den schlimmsten Horrorfilm, aber du bist selber mittendrin." Als der Attentäter auf ihn geschossen habe, sei er eine mehr als 15 Meter hohe Klippe heruntergestürzt und bewusstlos liegengeblieben. Sechsmal war er schon auf Utøya - "Sonne, Gesang und Idylle" sei das immer gewesen - bis Freitag die Hölle ausbrach.

Ferienlager-Koch Peter Dyredal Nielsen versteckte sich in der Kühlkammer im Gemeinschaftshaus - stundenlang bei zwei Grad. "Ich wartete darauf, zu sterben. Der Körper ging in den Überlebensmodus", sagte er "Dagbladet". Er habe in den Kartoffelsalat uriniert - er habe Angst gehabt, eine Flasche sei zu laut.

"Die Leute da draußen müssen erfahren, wie es wirklich war."

Auch Nicoline Bjerge Schie überlebte das Massaker. Jetzt graut ihr vor den Beerdigungen ihrer Freunde. "Da wird es Wirklichkeit, jeder einzelne", sagt sie. Das schlimmste aber sei, die Eltern und Angehörigen der Toten zu sehen, während sie überlebt habe.

Alle Überlebenden sollten ihre grausamen Erlebnisse mit möglichst vielen Menschen teilen, forderten die Jugendlichen. "Die Leute da draußen müssen erfahren, wie es wirklich war." Sie würden weiter für ihre Werte kämpfen, betont Stine Renate Håheim. "Wenn ein Mann so viel Hass zeigen kann, stell dir vor, wie viel Liebe wir alle zeigen können."

dpa