Duisburg ein Jahr danach: "Es liegt ein Schleier über der Stadt"

Duisburg ein Jahr danach: "Es liegt ein Schleier über der Stadt"
Wie leben die Duisburger mit den Folgen der Loveparade? Evangelisch.de sprach mit Menschen, die in Duisburg leben oder arbeiten. Wie haben sie den Tag der Katastrophe erlebt? Was denken sie nun im Abstand von einem Jahr über die Loveparade? Was hat sich in dem Jahr seit der Tragödie in Duisburg verändert? Offensichtlich bewegt das Thema die Stadt immer noch – gerade jetzt am Jahrestag. Sobald das Thema Loveparade angesprochen wurde, unterbrachen viele Menschen das Gespräch, während andere sich nachdenklich zeigten.
22.07.2011
Von Ralf Peter Reimann

Was haben Sie am 24. Juli 2010, am Tag der Loveparade, gemacht?

Gulcan Güleryüz: Unser Chef wollte die Bahnhofsbäckerei während der Loveparade nicht öffnen. Deshalb konnte ich auch auf der Loveparade dabeisein. Wir sind bis nach Neudorf gelaufen, kamen aber nicht mehr weiter zum Festivalgelände, das bereits abgesperrt war. Wir sind dann zur Tonhallenpassage in der Innenstadt gegangen, dort wurde auch Musik aufgelegt. Am nächsten Tag hatten wir wieder offen. Der Bahnhof war noch voller Menschen, die aus Duisburg nicht wegkamen, weil die Züge nicht fuhren. (Gulcan Güleryüz (19) arbeitet in einer Bäckerein am Osteingang des Duisburger Hauptbahnhofs.)

Martin Winterberg: Für den 24. Juli 2010 war ich als Notfallseelsorger für den Vormittagsbereich als Koordinator für den Bereich West mit dem Stützpunkt an der Düsseldorferstraße eingesetzt. Es gab zusammen mit einer Kollegin Gespräche mit den auch dort stationierten Hilfskräften der Feuerwehr und der Hilfskräfte von den Rettungsdiensten. Mein Einsatzdienst war am frühen Nachmittag beendet. Als ich nach Hause kam, kamen über die Medien bereits die ersten Nachrichten über die Tragödie. Sofort meldete ich mich wieder einsatzbereit.

Auf der gesperrten A59 wurde ein Notlazarett und Auffanglager für die Verletzten errichtet, wo es nach einer ersten Sichtung der Verletzten und der Erstbehandlung, zur Weiterleitung und zum Weitertransport in die umliegenden Krankenhäuser ging. Dort war ich dann bis nach Mitternacht als Notfallseelsorger im Einsatz. Ich führte Gespräche mit Verletzten, mit Traumatisierten und Angehörigen und Freunden von Verstorbenen, sowie auch mit Hilfskräften. Daneben versuchte ich in Absprache mit den vor Ort tätigen Hilfskräften der Feuerwehr auch für eine Weiterversorgung der Betroffenen zu sorgen und die Weiterbetreuung von Menschen in Krankenhäusern durch Krankenhausseelsorger zu organisieren. (Martin Winterberg ist Pfarrer im 1. Bezirk der evangelischen Kirchengemeinde Alt-Duisburg. Foto: privat)

Martin Mörke: Wir sind erst nachmittags aus Krefeld zur Loveparade nach Duisburg gestartet. Wir waren zu Fuß zum Güterbahnhof unterwegs, aber wurden schon in der Innenstadt gestoppt. Da war der Hauptbahnhof bereits abgerieglt, über Lautsprecherdurchsagen wurde den Besuchern mitgeteilt, dass es keinen Einlass mehr zum Festivalgelände gibt. Wir haben dann in der Innenstadt gefeiert, es war auch ein Musikwagen – ein Float - in der Innenstadt. Vom Unglück haben wir erst etwas erfahren, als Leute vom Festivalgelände zurückkehrten und berichteten, es habe Tote gegeben. In der Innenstadt haben wir vom Unglück nichts mitbekommen. (Martin Mörke (40) lebt in Krefeld und arbeitet in Duisburg.)

Hasan Ergozel: Am 24. Juli 2010 habe ich normal gearbeitet. Ich bin bis 16 Uhr Taxi gefahren. Viele Straßen waren wegen der Loveparade abgesperrt. Auch die Autobahn A59 war gesperrt. Zuhause habe ich erst in den Nachrichten gehört, dass Menschen zu Tode gekommen sind. Als Taxifahrer kenne ich die Örtlichkeit. Es ist alles sehr traurig.

Sandra Dergue: Ich war auf der Loveparade, allerdings nicht auf dem Festivalgelände, sondern in der Steinschen Gasse. Vom Unglück habe ich erst später erfahren. Viel habe ich mit Bekannten über die Loveparade diskutiert. Für mich steht fest: Man hätte vieles anders organisieren müssen. Aber es ist nun einmal passiert, man kann nichts mehr ändern. (Sandra Dergue (23) ist in Duisburg-Stadtmitte geboren und wohnt nun in Duisburg Hochfeld. Foto: Ralf Peter Reimann)

Mirjam Heller: Bereits vor der Loveparade hatte ich Bedenken. Deshalb bin ich am 24. Juli 2010 an den Niederrhein geflüchtet, es war ja gutes Ausflugswetter. Über Handy und Facebook habe ich verfolgt, was in Duisburg los ist. Als ich am späten Nachmittag über das Internet erfuhr, dass ein Unglück passiert ist, war ich sehr geschockt, denn viele meiner Freunde waren noch auf der Loveparade dabei.

Was hat sich aufgrund des Unglücks auf der Loveparade in Duisburg geändert? Was geschah in den Tagen und Wochen nach der Tragödie

Gulcan Güleryüz: In den ersten Tagen nach dem Unglück kamen viele Leute von auswärts und fragten hier am Bahnhof, wo der Unglücksort ist und wollten zum Tunnel gehen. Immer wieder wurde man an das Unglück erinnert. Überall sprachen Leute über das Unglück, auch im Bus auf dem Weg zu Arbeit, alle Leute waren erschüttert. Man kann nicht genau sagen, wer alles schuld ist, aber bei der Organisation hat es viele Fehler gegeben. Duisburg war einfach nicht gut geeignet für die Loveparade. Hinterher ist man immer schlauer, viele tragen einen Teil der Schuld.

Martin Winterberg: Nach wie vor steht die Stadt Duisburg unter dem Eindruck dieses Unglücks. Das betrifft zum einen die Bewohner dieser Stadt, die in den ersten Wochen nach der Tragödie paralysiert waren von dem, was sich da ereignet hatte, und setzt sich bis in die heutigen Tage fort. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen laufen seit nunmehr einem Jahr. Außer einer vorläufigen Anklageerhebung haben sie zu noch keinem Ergebnis in Sachen juristischer Verantwortung geführt, das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Nachdem eine Abstimmung über die Abwahl des Oberbürgermeisters im Rat nicht die erforderliche 2/3-Mehrheit erbracht hatte, läuft nun eine Unterschriftenaktion, um ein erneutes Abwahlverfahren in Gang zu setzen. Damit zusammen hängt eine Verwaltungsspitze, die in sich zerstritten ist und politisch kaum handlungsfähig ist. Dieses liegt hauptsächlich am Oberbürgermeister, greift aber über die Dezernenten bis hinein in weite Kreise des Rates und der Verwaltung. Gerade in solch einer Situation wäre in einer solchermaßen betroffenen Stadt eine moralische und geistige Führung der Stadt notwendig. Genau das Gegenteil ist aber die erlebte Realität.

Martin Mörke: Eigentlich hat sich wenig in Duisburg geändert. Aber man spürt die Wut der Menschen in Duisburg, weil niemand die Verantwortung für das Unglück übernimmt. Es ist lächerlich, wenn sich der Oberbürgermeister erst nach einem Jahr durchringt, sich bei den Opfern zu entschuldigen. Das ist doch nur noch eine Farce. Wenn man sich nach Feierabend zusammensetzt und mitenander redet, ist die Loveparade immer wieder ein Thema. Man spürt dann sofort den Ärger über die Stadtführung. Was sich die Politiker da leisten, ist eine absolute Frechheit.

Hasan Ergozel: Ich habe ab und zu Kunden, die mit dem Taxi zum Tunnel fahren wollen, wo die Menschen gestorben sind. Sie sehen sich um und sagen dort ihre Gebete. Ich fahre nicht gerne dahin, denn es mich schmerzt es jedes Mal, wenn ich dort bin. Wir alle in Duisburg fühlen uns schuldig, weil bei uns Menschen gestorben sind. Wir sind traurig. (Hasan Ergozel (57) ist Taxifahrer, oft steht er am Duisburger Hauptbahnhof. Foto: Ralf Peter Reimann)

Sandra Dergue: Die meisten Leute feiern weniger und gehen nicht mehr auf solche Massenveranstaltungen. Wenn sie doch auf große Feste gehen, denken sie immer an die Loveparade und dass Menschen gestorben sind.

Mirjam Heller: Sehr viele Mitbürger tun sich seit dem Unglück schwer zu sagen, wo sie herkommen. Die Stadt ist wie eingefroren. Viele Veranstaltungen wurden in Duisburg abgesagt, denn Menschen kommen nicht mehr gerne nach Duisburg. Es liegt ein Schleier über der Stadt. (Mirjam Heller (28) wohnt in Duisburg und arbeitet im Stadtzentrum.)

Duisburg wird nun von vielen Menschen mit einer Katastrophe verbunden. Was bedeutet es, in einer derart gekennzeichneten Stadt zu leben und zu arbeiten?

Gulcan Güleryüz: Ich bin traurig, weil die Katastrophe den Ruf von Duisburg noch weiter runtergezogen hat. Duisburg hatte schon vorher keinen guten Ruf gehabt. Dies finde ich sehr schade, denn Duisburg hat auch schöne Seiten.

Martin Winterberg: Sicherlich wird man auch von außenhalb immer wieder auf die Tragödie der Loveparade in dieser Stadt angesprochen. Dennoch ist es natürlich so, dass das normale Leben für die Menschen in dieser Stadt weitergeht. Und diese Stadt ist nach wie vor mit den erheblichen Verwerfungen durch den Strukturwandel zutiefst gebeutelt. So bleibt die Arbeitslosenzahl in Duisburg gegen den allgemein wahrnehmbaren Trend extrem hoch.

Es wäre sicherlich für die Stadt gut, wenn jemand öffentlich die Verantwortung für die Loveparade übernommen hätte. Eine Verantwortungsübernahme, die dann auch dazu führen könnte, dass wieder Frieden eintreten kann bei den Betroffenen, den Angehörigen, den Traumatisierten. Dies würde dazu führen, dass sie besser mit dem Erlebten und Erlittenen umgehen und leben können.

Martin Mörke: Viele Leute haben die Sorge, dass Duisburg nur noch mit der Loveparade verbunden wird. In Berlin hat es damals mit zwanzig Leuten auf einem VW-Bus angefangen und wir haben die Loveparade in Duisburg nun beerdigt.

Hasan Ergozel: Wenn ein kleiner Bürger etwas falsch macht, muss er sich dafür verantworten, aber in der Politik übernimmt niemand die Verantwortung. Das ist nicht gut für Duisburg.

Sandra Dergue: Wegen der Katastrophe reden viele Leute nur schlecht über Duisburg.Das ist traurig, weil Duisburg eigentlich eine schöne Stadt ist. Gerade in der letzten Zeit gab es viele Projekte, die Duisburg verschönert haben, das nimmt man nun aber nicht mehr wahr.

Mirjam Heller: Es ist ein großer Schock, dass einem in Duisburg alles so nah ist – denn sonst kennt man große Unglücke nur aus der Zeitung. Aber ich bin nach wie vor eingefleischte Duisburgerin und finde es schade, was passiert ist. Ich schäme mich nicht, aber es ist bedrückend.


Ralf Peter Reimann ist Pastor und arbeitet bei evangelisch.de.