Eine Ära geht zu Ende: Drei Zivis berichten

Eine Ära geht zu Ende: Drei Zivis berichten
Der Zivildienst veränderte ihr Leben. Kriegsdienstverweigerer erzählen in "chrismon plus" davon. Und auch, wenn es ein Pflichtdienst war, sagen doch alle: Wir haben davon profitiert. Einige der Geschichten dokumentieren wir auf evangelisch.de.
30.06.2011
Protokolliert von Marlene Halser

"Ich begriff, dass es auch mich glücklich und zufrieden macht zu helfen"

 

Thomas Rapp, 24 Jahre, bringt heute alten Menschen Mahlzeiten, statt ihnen als Bankberater risikoreiche Finanzgeschäfte aufzudrängen.

Eine Banklehre, das war schon als Kind mein Traum. Ich wurde teil der glitzernden Finanzwelt, war stolz darauf Verkaufsziel zu erreichen und Umsatz zu machen. Ich lief den ganzen Tag mit Anzug und Krawatte herum.

Nach und nach spürte ich die Ellenbogengesellschaft. Die Vorgesetzten machten Druck: zwei Mal täglich Bericht erstatten! Wenn die Bilanz nicht stimmte, gab man uns verstehen, dass wir am nächsten Tag mehr zu verkaufen hatten.

Unter anderem sollten wir Senioren, die ihr Geld meist noch auf Sparkonten angelegt hatten, Wertpapiere in höheren Risikostufen verkaufen. Ich kann mich noch gut an eine 80-Jährige Dame erinnern, deren Mann bereits verstorben war. Ich riet ihr, einen Teil ihrer Ersparnisse in risikoreichere Anlagegeschäfte zu investieren. Ich bin mir sicher, dass sie heute weniger besitzt als früher. Mein Gewissen begann sich zu regen. Der Einberufungsbescheid kam genau zur richtigen Zeit.

"Keine Lust auf Waffen und Alkoholexzesse"

Zum Bund wollte ich nicht. Keine Lust auf Waffen und Alkoholexzesse und auf Krabbeln im Dreck. Im Internet fand ich eine Vorlage für das Verweigerungsschreiben und passte sie auf meinen Lebenslauf an. Nach wenigen Wochen kam der positive Bescheid, und ich bewarb mich beim Malteser Hilfsdienst in Gräfelfing bei München. Das war nicht weit weg von zuhause, und dort kannte ich schon einen Mitarbeiter. Mir ging es nicht darum, Gutes zu tun. Ich freute mich auf die willkommene Auszeit.

Als Fahrer für Senioren und schwerbehinderte Kinder sah ich plötzlich die andere Seite – mit welchen Nöten viele alte Menschen in unserer Gesellschaft zu kämpfen haben, und dass viele ältere Leute unter dem Existenzminimum leben und sich schämen zum Sozialamt zu gehen.

Einmal brachten wir einer alten Dame zum ersten Mal Essen, weil jemand eine Patenschaft für sie übernommen hatte. Sie brach vor Freude über die warme Mahlzeit in Tränen aus. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ein Essen, denkt man, das ist doch etwas ganz Normales und die alte Frau freut sich so darüber.

Ich begriff, dass es auch mich glücklich und zufrieden macht, zu helfen. Plötzlich fühlte ich mich leicht und frei. Selbst Überstunden habe ich gern gemacht.

Noch vor Ablauf meines Zivildienstes bekam ich eine Stelle als stellvertretender Teamleiter angeboten: Servicemitarbeiter koordinieren. Seit Jahresanfang leite ich den Menüservice bei den Maltesern. Gerade habe ich am Anfang weniger Geld verdient als in der Bank. Aber wenigstens kann ich jetzt wieder mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen.


"Es ging um mein Leben und wie ich es gestalten will"

 

Sänger und Gitarrist Stefan Weyerer, 43 Jahre, dachte lange über sein Verhältnis zum Staat nach, bevor er als junger Mann den Kriegsdienst verweigerte. Manche Einsicht von damals findet sich heute in seinen Liedtexten wieder.

Den Einberufungsbescheid bekam ich 1987, kurz nach dem Abitur. Damals interessierten mich ausschließlich Fußball, Mädchen und meine Gitarre. Ich spielte in einer Schülerband, probierte alles Mögliche aus und wäre am liebsten für immer durchs Nachtleben gestreift. Dass ich Musiker werden wollte, wusste ich schon damals. Aber ich wagte nicht, meinem Vater davon zu erzählen. Für meine Eltern stand fest, dass ich eines Tages die Familienbäckerei übernehmen würde.

Dass ich nicht zum Bund gehen würde, war für mich von Anfang an klar. Ich wurde pazifistisch erzogen. Mein Vater hat immer nur abschreckende Geschichten aus der Nazi-Zeit und vom Krieg, den er als Kind miterlebt hatte, erzählt.

Als ich Abitur machte, war die Friedens-, Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung auf dem Höhepunkt. Auch ich ging mit meinen Freunden auf Demos gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und gegen das Wettrüsten im Kalten Krieg.

Bei der Musterung habe ich gleich nach der Untersuchung gesagt, dass ich verweigern will. Wenige Jahre zuvor mussten Kriegsdienstverweigerer noch in eine Verhandlung. Bei mir war die Verweigerung nur noch ein Brief. Trotzdem war klar, dass so etwas bei den Männern in der Musterungskommission nicht gut ankam. Sie hätten mich lieber beim Bund gesehen.

Als ich den Brief schrieb, machte ich mir zum ersten Mal Gedanken, was Staat und Demokratie eigentlich für mich bedeuten. Nun war Politik nicht mehr abstrakt, es ging um mein Leben und wie ich es gestalten will. Ich ging zu einer Beratungsstelle für Kriegsdienstverweigerer, las Erich Fromm, C.G. Jung und alles, was ich über Gandhi bekommen konnte und diskutierte viel.

"Viele junge Männer gingen nach Berlin"

Einige Freunde sahen im Zivildienst nur eine andere Form von Kriegsdienst und wollten das System nicht unterstützen. Viele junge Männer gingen damals nach Berlin. Wegen des Vier-Mächte-Status in der Stadt wurde man dort nicht von der Bundeswehr erfasst. Andere ließen sich mit einem psychologischen Gutachten ausmustern. Aber für mich hatte die Sache eine größere Bedeutung.

Es ist ein Privileg und eine Chance, in einer Demokratie und in Frieden zu leben. Ich wollte einen sinnvollen Beitrag leisten. Damals habe ich Gewaltfreiheit und Pazifismus als Grundwerte verinnerlicht, und meine Zustimmung zur demokratischen Grundordnung. Ohne Einberufung hätte ich darüber wohl nicht nachgedacht. Solche Gedanken fließen bis heute in meine Songtexte mit ein.

20 Monate arbeitete ich in einer integrativen Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Eine lange, prägende Zeit, ich habe die Entscheidung nie bereut. Nun konnte ich selbst entscheiden, was ich mit meinem Leben anfangen will und das hat mein Selbstbewusstsein gestärkt. Während meines Zivildienstes fand ich auch endlich den Mut, meinem Vater zu sagen, dass ich Musiker werden will. Im Mai 2011 kam die neueste CD meiner "Kapelle Weyerer" auf den Markt, schon die 15. Platte an der ich beteiligt bin.


"Für meinen Vater war ich ein Vaterlandsverräter"

 

Karl Lipp, 58 Jahre, leistete als Kriegsdienstverweigerer seinen "Ersatzdienst" in der Münchner Pfennigparade, einer Betreuungseinrichtung für Schwerbehinderte. Sein weiteres Leben hat er der Förderung des Friedens gewidmet.

Für mich als kleiner Junge war das Militär ein großer Abenteuerverein. Mein Vater, ein Kriegsveteran, hatte von 1939 bis Kriegsende zuerst in Polen, dann in Frankreich und in Russland gekämpft. Seine Erzählungen vom Krieg hörten sich immer spannend an. Bis zur Pubertät träumte ich davon, als Pilot Kampfjets zu fliegen.

Zwei Lehrer auf dem Gymnasium erzählten Geschichten vom Krieg, die ganz anders klangen. Einer war mein Zeichenlehrer, der andere unterrichtete Deutsch. Das war so etwa ab der 10. Klasse, als die Studenten begannen, aufzubegehren. Ich begann, Ernst Jünger, Erich Kästner und andere Autoren zu lesen, die sich kritisch mit dem Naziregime und der Rolle der Wehrmacht auseinander setzten.

Damals waren Bilder des Vietnamkriegs ziemlich ungefiltert im Fernsehen zu sehen. Nun mussten wir mitansehen, wie unsere Freunde, die Amerikaner, Napalmbomben auf vietnamesische Dörfer warfen. Das war für mich Völkermord. Mir wurde bewusst: Krieg ist auf jeden Fall zu verurteilen, weil Menschen umgebracht und Werte zerstört werden.

Mit 17 Jahren trat ich der Deutschen Friedensgesellschaft – Internationale der Kriegsdienstverweigerer bei. Den Verein gibt es bis heute. Wir druckten Flugblätter, riefen auf, den Kriegsdienst zu verweigern, und organisierten Infostände in der Münchner Fußgängerzone. Wir demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und das Wettrüsten im Kalten Krieg. Für meinen Vater war ich ein Vaterlandsverräter.

Im Juli 1972 wurde ich zur Musterung aufs Kreiswehrersatzamt geladen. Kurz darauf stellte ich meinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Dann wurde es ernst. Ich bekam einen Einberufungsbescheid, legte Widerspruch ein und musste im Dezember 1972 zu einer Verhandlung vor dem Prüfungsausschuss erscheinen. Einige ältere Herren aus der gleichen Generation wie mein Vater blickten mich mit eisiger Miene an: Ob ich Deutschland im Falle eines Angriffskriegs der russischen Armee ausliefern wolle!

Für meine Begriffe argumentierte ich sehr geschickt. Trotzdem bekam ich einige Wochen nach der Verhandlung einen Ablehnungsbescheid: Meine Einlassungen seien als nicht glaubwürdig erschienen. Zur zweiten Verhandlung nahm ich einen Anwalt und meine Mutter als Zeugin mit. Nachdem meine Mutter versichert hatte, dass ich glaubwürdig sei und sie meine Entscheidung unterstütze, wurde meine Verweigerung anerkannt. Meinen Ersatzdienst trat ich 1975 an, nach meinem Studium als Grafikdesigner.

"Ich hatte mich unsterblich verliebt"

Kurz vorher hatte ich mich unsterblich in Renate verliebt. Auf einer Party lag sie mit vielen anderen auf Matratzen. Ich hab sie gesehen und schon war es um mich geschehen. Dass sie wegen einer Polioerkrankung gelähmte Beine hatte und auf Krücken laufen musste, habe ich erst danach festgestellt. Das hat mich auch nicht abgeschreckt. Renate besuchte die Fachoberschule für Sozialwesen, die einem Rehazentrum für Körperbehinderte angegliedert war, der Münchner Pfennigparade. Ich beschloss, dort meinen Ersatzdienst zu leisten. So konnten wir uns täglich sehen.

Während der 18 Monate war ich erst Betreuer im Heim für mehrfach körperbehinderte Kinder. Drei Monate später bewarb ich mich auf eine Stelle als Ersatzdienstkoordinator und wurde genommen. Fortan stellte ich die neuen Zivis ein. Weil ich nebenbei Kriegsdienstverweigerer beriet, konnte ich immer neue Zivis für die Pfennigparade rekrutieren. Nach meinem Zivildienst blieb ich weitere anderthalb Jahre auf diesem Posten. Zu meinem Dienstbeginn beschäftigte die Pfennigparade zwölf Ersatzdienstleistende. Als ich ging, weil der Leitung mein liberaler Umgang mit den Zivis nicht gefiel, waren es 120.

Danach arbeitete ich als Grafikdesigner, bis 1993 hauptsächlich für die AG Friedenspädagogik, die ich mitbegründet hatte und die zahlreiche Antikriegsausstellungen organisiert hat. Ich bin zufrieden, wie alles gelaufen ist.


Die Protokolle sind in der Ausgabe 07/2011 des evangelischen Magazins "chrismon plus" erschienen und hier mit freundlicher Genehmigung abgebildet.