"Müll-Taucher" retten Kekse aus dem Abfall

"Müll-Taucher" retten Kekse aus dem Abfall
Niemand weiß genau, wie viel Essen in Deutschland jährlich weggeworfen wird. Auf jeden Fall ist es zu viel. Der Filmemacher Valentin Thurn hat zu diesem Thema recherchiert und festgestellt, dass es kaum noch ein Gefühl für gute Nahrung gibt. Großhändler weigern sich, Lebensmittel zu spenden, und wer versucht, Essen aus dem Müll zu holen, wird verurteilt.
16.06.2011
von Thomas Klatt

Der Kölner Filmemacher Valentin Thurn wurde durch die so genannten "dumpster diver", zu deutsch "Müll-Taucher", auf das Problem der weltweiten Lebensmittelverschwendung aufmerksam. Die Menschen holen sich durchaus noch genießbares Essen aus dem Container, das nur dorthin gelangt, weil Konservendosen verbeult sind oder das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Viele Verbraucher wissen immer noch nicht, dass das Produkt in der Regel auch nach Ablauf dieses Datums noch lange Zeit genießbar ist.

Auch in Deutschland gibt es eine kleine radikale Bewegung der Müll-Taucher. Doch nirgends würden sie so verfolgt wie hier, berichtet Thurn: "Der Lebensmittelmüll ist streng genommen immer noch Eigentum des Anbieters. Es gab schon Verurteilungen wegen Diebstahls, weil Aktivisten sich ein paar Kekstüten aus dem Container hinter dem Warenhaus gefischt hatten." Dabei klauben sich die deutschen Müll-Taucher nicht aus Not oder Armut ihre Lebensmittel aus dem Container, sondern aus Protest gegen eine unglaubliche Ressourcenverschwendung.

Die ersten 100 Laibe Brot aus dem Ofen in den Müll

Es wird in den Industrieländern schätzungsweise auf dem Weg von der Produktion bis zum Küchentisch genau soviel weggeworfen wie konsumiert wird. In der Backstraße landen die ersten hundert Laibe auf dem Müll, weil der Ofen noch nicht die nötige Temperatur erreicht hat. In der Bäckerei wird bis kurz vor Ladenschluss ein Vollangebot vorgehalten. Die herrlichsten Brote und Schrippen werden somit zwangsläufig nachts weggeworfen. Nur der geringste Teil findet seinen Weg als Spende in die Tafeln. Viele Lebensmittelanbieter wollten auch ganz bewusst nichts spenden, um die Preise nicht kaputt zu machen. Auch Hartz IV-Empfänger sollten nach dem Willen vieler Großanbieter an der Kasse bezahlen, weiß Thurn. (Foto: Thurnfilm / Brigitta Leber)

Für seinen Film "Taste the waste" hat Valentin Thurn unter anderem mit Unterstützung des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) weltweit recherchiert und gedreht. Am 8. September kommt der Film in die deutschen Kinos, über den EED gibt es bereits jetzt eine Kurzfassung unter dem Titel "Essen im Eimer" für den Schul- oder Gemeindegebrauch.

Religiöse Hochachtung vor dem Essen?

Die Verschwendung geht in den privaten Haushalten munter weiter. "In Deutschland ist das Thema noch gar nicht richtig erforscht. Ich musste mich bei meinen Recherchen auf österreichische und britische Studien stützen und diese hochrechnen. Auch die aktuellen EU-Zahlen gehen davon aus, dass in Deutschland Lebensmittel im Wert von rund 400-600 Euro pro Haushalt im Jahr einfach weggeschmissen werden. Etwa 10 Prozent des Lebensmitteleinkaufs landen in der Tonne, obwohl die Verpackung noch nicht einmal oder gerade erst angebrochen wurde", so der Filmemacher.

Einen Grund sieht Valentin Thurn unter anderem in der fehlenden Wertschätzung für Lebensmittel. "Wer noch die biblische Geschichte von der Speisung der 5000 kennt, der weiß, dass es auch so etwas wie eine religiöse Hochachtung vor dem Essen gibt. Dagegen steht heute die Industrialisierung von Nahrung. Es zählt nur noch das kosmetisch perfekt designte Einheitsessen ohne Sinn für den Geschmack und die Mühen der Herstellung", mahnt Thurn. Es fehle den Menschen schlicht ein Gefühl und eine Ahnung für gute Ernährung.

Erster Erfolg: ein "Runder Tisch" in NRW

"Urban gardening" ist eine Bewegung, um den Menschen in den Metropolen wieder eine Idee davon zu geben, dass eine selbst gezogene krumme Karotte eben besser ist als die Handelsklasse-1a-Standardmöhre. Ein weiterer Faktor der Missachtung von Lebensmitteln liegt wohl auch darin begründet, dass das Essen zu billig ist. Mussten die Bürger in den 1970er Jahren noch gut 40 Prozent ihres Einkommens für Nahrung ausgeben, so sind es heute gerade einmal noch rund 12 Prozent.

Thurns Arbeit zeigt erste Ergebnisse. Noch nie habe einer seiner Filme so schnell politische Reaktionen ausgelöst, sagt er. Das Bundeslandwirtschaftsministerium habe jetzt eine Kommission zur Überprüfung der Lebensmittelverschwendung eingesetzt. Der grüne Verbraucherschutzminister in NRW, Johannes Remmel, will zu einem "Runden Tisch" einladen. Vertreter der Lebensmittelwirtschaft, der Landwirtschaft, der Produzenten, Händler und Wohlfahrts- und Verbraucherschutzverbände sollen gemeinsam Lösungen erarbeiten: Keine vollen Regale am Abend, kleinere Verpackungsgrößen, Rabatte vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums und eine bessere Verteilung an die Wohlfahrtsverbände.

Kühlketten und Lagerräume würden schon helfen

Und auch die Verpackungsindustrie sei auf seinen Film aufmerksam geworden. Schätzungsweise gehen weltweit rund ein Drittel der produzierten Nahrung nur deshalb verloren, weil es zwischen den Feldern und den Verbrauchern in den Städten an ausreichend Lagerraum, durchgehenden Kühlketten oder eben auch der angemessenen Verpackung mangelt. Auf Grund der Globalisierung und der weltweiten Nahrungsmittelströme sei seit den 70er Jahren der Lebensmittelmüll um die Hälfte gestiegen, beklagt Thurn.

Am besten ist es natürlich, diese Warenströme gar nicht erst zu unterstützen. Die aktuelle EHEC-Krise hat wieder einmal gezeigt, dass wir oftmals gar nicht wissen, wo unter welchen Bedingungen unser Essen produziert wird und wo es genau herkommt, trotz aller Etikettierungen. "Ich bin überhaupt kein Supermarkt-Gegner. Bloß sollten die Ketten eben auch Produkte aus der Region anbieten, um eine Alternative für den Verbraucher zu schaffen", fordert Nahrungsexperte Valentin Thurn.


Thomas Klatt arbeitet als Freier Journalist in Berlin.