Späte Kehrtwende: Die Gefängnisnation USA denkt um

Späte Kehrtwende: Die Gefängnisnation USA denkt um
Rund 2,3 Millionen Männer und Frauen sind in den USA im Gefängnis. Vor 30 Jahren waren es nur 500.000. Doch inzwischen zeichnet sich eine Wende ab - aus Kostengründen.
11.06.2011
Von Konrad Ege

Das Land ist berüchtigt für drakonische Haftstrafen. Vor kurzem urteilte das Oberste Gericht im Bundesstaat Wisconsin, "lebenslange Haft ohne Bewährungsmöglichkeit" sei selbst im Fall eines 14-Jährigen rechtmäßig, der ein anderes Kind verprügelt und in den Tod gestoßen hatte.

Doch es zeichnet sich eine Wende ab. Die weit verbreitete Härte-Mentalität unter dem Schlagwort "tough on crime" (unnachgiebig gegen Kriminalität) kann sich nicht halten. Denn die Gefängnisse lassen sich kaum mehr finanzieren. Wegen staatlicher Sparzwänge werden bereits Lehrer entlassen, Sozialprogramme gekürzt, Infrastrukturprojekte aufgeschoben.

Der Bundesstaat Kalifornien etwa gibt gegenwärtig zehn Milliarden Dollar im Jahr für den Justizvollzug aus und etwa fünf Milliarden für staatliche Hochschulen. Vor 15 Jahren noch war das Verhältnis umgekehrt, wie die Zeitung "San Diego Union" berichtete.

"Die hohen Kosten des Vollzugs haben Politiker gezwungen, über Reformen nachzudenken, um Häftlingszahlen zu stabilisieren oder zu reduzieren", erläutert der Direktor der Forschungsgruppe "Sentencing Project", Marc Mauer. Der Oberste US-Gerichtshof hat diesem "Nachdenken" mit einem aufsehenerregenden Urteil Ende Mai deutlich nachgeholfen.

"Grausame" Zustände

Die Haftbedingungen in den überbelegten Gefängnissen von Kalifornien seien so entsetzlich, dass sie gegen das in der US-Verfassung vorgeschriebene Verbot der "grausamen und ungewöhnlichen" Bestrafung verstießen, urteilten die Richter. Kalifornien müsse mehr als 30.000 Häftlinge entlassen. Die Haftanstalten im Bundesstaat wurden einst für 80.000 Häftlinge gebaut. Gegenwärtig sitzen dort aber 143.000 ein.

Einer der Obersten Richter, Anthony Kennedy, legte der Urteilsbegründung ein Foto bei. Es zeigt Käfige, die etwa so groß sind wie Telefonzellen, die engmaschigen weißen Gitter stellenweise angerostet. Dort habe Kalifornien suizidgefährdete Häftlinge zeitweise untergebracht, weil es nicht genug Krankenhausbetten gegeben habe.

Ein Häftling sei fast 24 Stunden in einen solchen Käfig gesperrt worden, er habe in seinem eigenen Urin stehen müssen. Ein Gefängnis, das Häftlingen grundlegende Versorgung vorenthalte, einschließlich ausreichender ärztlicher Versorgung, verletze die Menschenwürde und habe "keinen Platz in einer zivilisierten Gesellschaft", hieß es im Urteil.

Vorreiter New York

In den USA befassen sich die Bundesstaaten und nicht die nationalen Behörden mit den meisten Verbrechen. Die Inhaftierungswelle wurde in den 70er Jahren angestoßen, als New York Haftstrafen für Drogenbesitz einführte. Das hat landesweit Schule gemacht. In Kalifornien sitzen nach Angaben des Verbandes "Drug Policy Alliance" allein rund 10.000 Häftlinge wegen Drogenbesitzes ein.

Dann folgten in mehr als 20 der 50 Staaten neue strenge Gesetze. In Anlehnung an die Baseball-Regel, dass der Schlagmann nach dem dritten Fehlschlag vom Spielfeld muss, heißen sie "Three Strikes and you are out"- Gesetze: Täter bekommen nach einer dritten Verurteilung automatisch 25 Jahre bis lebenslang. Und in den meisten Staaten können Häftlinge nicht mehr vorzeitig auf Bewährung entlassen werden.

Dabei erscheint in einem Land mit der Todesstrafe das Urteil "lebenslänglich" zunächst mild. Aber lebenslänglich bedeutet in den USA oft wirklich lebenslänglich und nicht nur 15 Jahre, wie es in Deutschland häufig der Fall ist.

Der kalifornische Gouverneur Jerry Brown hat nach dem jüngsten Urteil zwei Jahre Zeit, um es umzusetzen und Häftlinge zu entlassen. Auch in anderen Staaten werden Reformen ausprobiert. Vermont zum Beispiel beschloss im Mai, nicht-gewalttätige Straftäter mehrere Monate vor dem Ende ihrer Haftstrafe zu entlassen. In Alabama entwickeln die Justizbehörden ein erstes umfangreiches Freigänger-Programm.

Entzug statt Knast

In Kentucky, wo die Häftlingszahl von 5.700 im Jahr 1985 auf 20.700 im Jahr 2010 gestiegen ist, unterzeichnete der Gouverneur ein Reformgesetz, um 40 Millionen Dollar im Jahr zu sparen: Geringere Haftstrafen für Drogenvergehen, dafür mehr Entzugstherapien. Strafen bei "kleinen" Vergehen werden nun eher zur Bewährung ausgesetzt. Selbst in Texas, als Hardliner-Bundesstaat bekannt, berät das Parlament über die vorzeitige Entlassung von Häftlingen im Rentenalter - wegen der hohen Krankenkosten.

Zwischen 1999 und 2008 ist nach Angaben des US-Justizministeriums die Zahl der Gefangenen im Alter über 55 Jahre um 76 Prozent gestiegen. Auch Kriminelle brauchen in fortgeschrittenem Alter Operationen und Rollstühle, sie erkranken an Diabetes und Alzheimer. In mehreren Bundesstaaten sind in Haftanstalten bereits Pflegestationen eingerichtet worden.

350 Insassen sterben jedes Jahr in kalifornischen Gefängnissen, berichtete der Fernsehsender KTVU in Oakland. Und die Haftanstalt von Vacaville hat kürzlich die erste Hospizstation für sterbende Häftlinge in dem Bundesstaat eingerichtet.

epd