Verbrechensopfer: "Beweise sichern, Anzeige erstatten!"

Verbrechensopfer: "Beweise sichern, Anzeige erstatten!"
Jörg Kachelmann wurde vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen - aus Mangel an Beweisen. Was müssen Verbrechensopfer beachten, damit ein tatsächlicher Täter nicht ungestraft davonkommt? evangelisch.de sprach mit Veit Schiemann von der Weißen Ring e.V. Sexualstraftaten sind die häufigsten Verbrechen, mit denen die Hilfsorganisation zu tun hat.
31.05.2011
Die Fragen stellte Thomas Östreicher

Herr Schiemann, was können Opfer gewalttätiger Übergriffe tun, damit es nicht zu einem Freispruch des Täters aus Mangel an Beweisen kommt?

Veit Schiemann: Eine hundertprozentige Sicherheit, dass ein späteres Gerichtsverfahren zugunsten des Opfers ausgeht, gibt es nicht, denn das Gericht würdigt die Gesamtumstände aller Beweismittel. Betroffene können aber einen wichtigen Schritt machen, nämlich eine Beweissicherung vornehmen.

Die innere Hürde, das zu tun, ist allerdings ziemlich hoch.

Schiemann: Darum wollen wir als Organisation Weißer Ring diese Beweissicherung mit einem Hilfe-Scheck für eine rechtsmedizinische Untersuchung erleichtern. Damit können Sie zu einem rechtsmedizinischen Institut gehen, Sie werden dort untersucht, es werden Spuren gesichert und dann von diesem Institut unter einer Registrierungsnummer aufbewahrt. Wenn Sie sich dann für eine Strafanzeige entscheiden, haben Sie Beweise in der Hand, die juristisch verwendbar sind. Das ist auch jetzt schon möglich, aber man muss es selbst bezahlen, und der Preis liegt unter Umständen bei einigen Hundert Euro.

Wem bieten Sie diesen Service an?

Schiemann: Die Voraussetzung ist, dass uns jemand glaubhaft versichert, Opfer einer vorsätzlichen Straftat zu sein. Eine Mitgliedschaft im Verein Weißen Ring ist nicht nötig.

Wer nicht selbst betroffen ist, wundert sich mitunter, dass Opfer oftmals keine Anzeige erstatten. Was ist der Hintergrund?

Schiemann: Gerade der Fall Kachelmann hat noch einmal deutlich gemacht, was die Opfer manchmal durchmachen müssen, wenn sie den Weg der Anzeige gehen. Nicht alle Fälle sind so extrem gelagert, aber natürlich besteht die Befürchtung: Ich gehe zur Polizei und erstatte Anzeige, was schon schwer genug ist, weil ich Wildfremden erzählen muss, was mir intimst angetan wurde. Und dann werde ich es am nächsten Tag obendrein in der Boulevardpresse lesen.

Opfer sollten nicht allein bleiben

Worauf kommt es unmittelbar nach der Tat an?

Schiemann: Verständlicherweise haben Vergewaltigungsopfer den Wunsch, sofort zu duschen, sich zu waschen und die Kleidung wegzuwerfen. Nur wird damit die Beweissicherung erheblich erschwert. In diesem Moment kommt es darauf an, diesem Drang nicht gleich nachzugeben, sondern erst Spuren zu sichern. Am besten kann das natürlich die Polizei, und die Beamten sind auch entsprechend geschult, dabei sensibel vorzugehen. Zumindest ist das die große Hoffnung - im Einzelfall kann man immer Pech haben.

Auf Ihrer Webseite geben Sie Opfern eines Übergriffs zu allererst den Rat, nicht allein zu bleiben.

Schiemann: Richtig. Denn es hilft, sich damit auseinanderzusetzen, sich nahe stehenden Menschen anzuvertrauen oder - gerade wenn der Täter zur eigenen Familie gehört - einer Beraterin oder einem Berater.

Raten Sie grundsätzlich dazu, Anzeige zu erstatten?

Schiemann: Ja. Weil das Opfer damit aus seiner passiven Rolle heraus- und in eine aktive Rolle hineinkommt, womit die Verarbeitung eigentlich erst beginnen kann. Das vermag dem Ganzen einen positiven Dreh zu geben.

Empfehlung: Selbstbehauptungskurse

Opfer bekommen unter Umständen einen kostenlosen Rechtsbeistand. Wozu ist es sinnvoll, sich anwaltlich vertreten zu lassen?

Schiemann: Es gibt in bestimmten Fällen das Recht auf einen vom Staat bezahlten Opferanwalt, sofern das Opfer das Anrecht auf Prozesskostenhilfe hat. Ansonsten muss das Opfer den Rechtsanwalt selbst bezahlen. Im Strafprozess hat man das Recht, als Nebenkläger aufzutreten und wird damit zum Prozessbeteiligten. Man kann den Täter befragen und die Zeugen, man hat Akteneinsicht, kann eine eigene Stellungnahme abgeben und manches mehr. Ist man kein Nebenkläger, gilt man lediglich als Zeuge der Tat, und man besitzt dieselbe Beweiskraft wie etwa ein blutiges Messer.

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Was halten Sie von Selbstverteidigungskursen?

Schiemann: Zu Selbstbehauptungskursen sagen wir ja, weil sie die potenziellen Opfer stärken, sodass sie vielleicht gar nicht erst zum Opfer werden. Selbstverteidigungskurse haben einen eklatanten Nachteil. Meist gehören sie zu einem Sportangebot, und aus dem Sport ist bekannt: Es kann immer einen geben, der besser ist. Da kommt es schnell zur Selbstüberschätzung, dabei ist der Angreifer womöglich ebenfalls ausgebildeter Kampfsportler.

Kennen Sie ein Beispiel?

Schiemann: Ich erinnere mich an den Fall eines ausgebildeten Kampfsportlers, der sogar Deutscher Meister in seiner Disziplin war. Er wollte in einer Notsituation helfen und wurde dann von hinten mit einem Messer gestochen. Ihm hat all seine Kampfkunst nichts genutzt. Wenn Sie also einen schnellen Tritt beherrschen, das Gegenüber aber bewaffnet ist - so schnell können Sie gar nicht laufen. Kurse können helfen, das Selbstbewusstsein zu stärken, damit man sich sicherer fühlt, aber viele wiegen sich da in einer falschen Sicherheit.

Zuwendung ist das Wichtigste

Wie helfe ich als Freund oder Angehöriger einem Verbrechensopfer am besten?

Schiemann: Auch wenn es sich etwas seltsam anhören mag: Am besten ist der Hinweis auf eine Opferorganisation wie den Weißen Ring. Wir haben geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wissen, dass ein Vergewaltigungsopfer etwas anderes braucht als jemand, bei dem eingebrochen wurde. Unsere Leute sind gut vernetzt und wissen auch von Hilfsangeboten anderer Einrichtungen und deren Möglichkeiten.

Was braucht speziell ein Vergewaltigungsopfer?

Schiemann: An erster Stelle Zuwendung, ein Gespräch, in den Arm nehmen, trösten. Das ist am Anfang das Wichtigste. Als Nächstes: Gemeinsam überlegen, was das Opfer jetzt tun will. Möchte es zur Polizei gehen? Dann sollte eine Begleiterin oder ein Begleiter dort anrufen und darum bitten, dass möglichst eine Polizistin kommt, die dann auch bei der Beweissicherung helfen kann. Wenn das Opfer erst einmal keine Polizei will, nutzt der Hinweis auf andere Hilfen: den Weißen Ring, Frauenhäuser, Gleichstellungsbeauftragte im Betrieb und so weiter. Ganz wichtig: Einfühlsam vorgehen und auf keinen Fall Vorwürfe machen. Der klassische Satz "Was ziehst du dich auch so aufreizend an!" war noch nie richtig. Die Schuld trägt immer nur der Täter.


Veit Schiemann ist Sprecher des Vereins Weißer Ring e. V. in Mainz.