Die Vuvuzelas sind verstummt: Südafrika ein Jahr nach der WM

Die Vuvuzelas sind verstummt: Südafrika ein Jahr nach der WM
Von der Rainbow-Nation in die Krise: Die Arbeitslosenzahlen sind hoch, das Bildungssystem ist mangelhaft, die Unzufriedeheit steigt. Was ist von der Euphorie der Fußball-Weltmeisterschaft geblieben?
12.05.2011
Von Renate Wilke-Launer

Im November vergangenen Jahres wandte sich die Nelson Mandela Foundation mit einer Bitte an die Öffentlichkeit: Man möge keine weiteren Anfragen für Interviews, Fototermine, Unterstützung, Vermittlung, Präsenz an den 92-Jährigen richten. Der südafrikanische Politiker Mandela hatte sich schon 2004 offiziell aus dem öffentlichen Leben verabschiedet, doch die Stiftung erhielt fünf Jahre danach immer noch 4000 Gesuche im Monat.

Auch Desmond Tutu, südafrikanischer Erzbischof und Friedensnobelpreisträger, wie Nelson Mandela für viele Menschen Quelle der Inspiration und Orientierung sowie "Patron" unzähliger Initiativen und Institutionen, verabschiedete sich im Oktober 2010 weitgehend ins Privatleben: Er wolle weniger Zeit auf Flughäfen verbringen und statt dessen mit seiner Frau Leah Rooibostee trinken, hatte er im Juli gesagt und seinen 79. Geburtstag zum Rückzugstermin erklärt.

Gemeinsames Singen

Bei der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Sommer konnte man noch einmal den Geist der "Rainbow Nation" erleben, von der Desmond Tutu einst nach Nelson Mandelas Amtseinführung als Präsident gesprochen hatte. Während des World Cups sei ein Patriotismus spürbar gewesen, der, erstmals in der Geschichte Südafrikas, keine politische Ansage gewesen sei, sondern einem Gefühl der Freude und Zugehörigkeit Ausdruck verliehen habe, schrieb der Journalist Mark Gevisser.

Doch wenige Wochen nach dem World Cup war die Stimmung in Südafrika schon wieder im Keller. Die täglichen Enthüllungen über Korruption und Misswirtschaft, dazu der dreiwöchige Streik im Öffentlichen Dienst und schließlich die geplanten neuen Presse- und Sicherheitsgesetze – von Aufbruchstimmung und Ausgelassenheit keine Spur mehr.

Kaum waren die Vuvuzelas verstummt, war auch wieder die alte Kakophonie des Streits innerhalb der "Dreiparteienallianz" zu hören. Zu ihr gehören die Regierungspartei Afrikanischer Nationalkongress (ANC), die Kommunistische Partei (sacp) und der Gewerkschaftsdachverband (cosatu). Die drei sind sich keineswegs einig, weder in der Bewertung der gegenwärtigen Politik noch im Blick auf die zukünftige Richtung.

Desillusionierung in der jungen Demokratie

Die schwarze Bevölkerung ist desillusioniert, weil sie nicht bekommt, was sie erhofft hat und was ihr versprochen wurde. Gelegentlich kann man sogar hören, dass es früher "besser" gewesen sei. Das ist keineswegs Apartheids-Nostalgie, sondern die Erinnerung daran, dass die Kriminalität niedriger, die Gesundheitsversorgung und das Schulwesen mancherorts besser waren. Die übrigen Bevölkerungsgruppen – die Minderheiten der Weißen, der Inder und der Coloureds haben zunehmend das Gefühl, dass nicht wirklich eine Regenbogennation geschmiedet wird, sondern die neue Machtelite sich auf Dauer komfortabel einrichtet.

Optimisten verweisen darauf, dass die nunmehr fast siebzehn Jahre amtierende ANC-Regierung Beachtliches geleistet hat: Sie hat subventionierte Häuser bauen lassen, Leitungen für Strom und Wasser gelegt und investiert vergleichsweise viel in das Bildungs- und Gesundheitswesen. Vor allem aber beziehen heute 14 der 50 Millionen Südafrikaner staatliche Transferleistungen, in erster Linie Kindergeld. 1999 waren es erst 2,5 Millionen. Moeletsi Mbeki, der Bruder des früheren Präsidenten, nennt Südafrika "den größten Sozialstaat der Dritten Welt".

Dass es möglich ist, so viel Geld für Sozialleistungen auszugeben, verdankt die Regierung der hervorragend arbeitenden Steuerbehörde. Doch auf Dauer ist es kaum finanzierbar, so viele Menschen zu unterstützen. Skeptiker verweisen, dass Südafrika zwar seit dem Ende der Apartheid ein stetiges Wirtschaftswachstum verzeichnet, dies sei aber zu gering, um die Arbeitslosigkeit zu verringern. Dazu müsste es nach Angaben von Finanzminister Pravin Gordhan mindestens sechs Prozent betragen – aber alle Prognosen für die kommenden Jahre liegen darunter.

Viele ohne Schulabschluss ...

Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der engen Definition der Regierung 25,3 Prozent, die wirkliche Rate aber wird inzwischen auf über 40 Prozent geschätzt. Die Regierung hat sich vorgenommen, bis zum Jahr 2020 fünf Millionen "anständige" neue Jobs zu schaffen. Um ein so ehrgeiziges Ziel zu erreichen, müsste zunächst einmal der Staatsapparat besser funktionieren. Viele Arbeitslose sind zudem kaum "beschäftigbar".

Obwohl die Regierung mit mehr als 5 Prozent des Bruttosozialprodukts viel für Bildung ausgibt, ist die Qualität vieler Schulen miserabel. Die Hälfte der Kinder verlässt die Schule vor dem Abschlussexamen. Bei internationalen Vergleichstests lag Südafrika ganz hinten – noch hinter anderen afrikanischen Ländern. Eine der Ursachen für diese Misere sind schlecht qualifizierte, oft wenig motivierte Lehrer und unzureichend ausgestattete Schulen. Gleichzeitig ruft die Gewerkschaft "South African Democratic Teachers' Union" immer wieder zu Streiks auf und konnte bisher Qualitätskontrollen und Disziplinarmaßnahmen weitgehend verhindern.

... aber mehr schwarze Studenten

Immerhin nehmen aber weit mehr junge Schwarze ein Studium auf. Die Zahl der schwarzen Absolventen an öffentlichen Universitäten ist seit 1991 um 335 Prozent gestiegen und liegt jetzt über denen der weißen. Doch auch sie finden nicht immer schnell Arbeit, weil ihre Ausbildung nicht dem Arbeitsmarkt entspricht.

So ist die Jugendarbeitslosigkeit eines der gravierendsten Probleme Südafrikas. 2,5 Millionen junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren stehen weder in einem Ausbildungs- noch in einem Arbeitsverhältnis. Bei jungen schwarzen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren ist die Arbeitslosigkeit am höchsten: 63 Prozent haben keinen Job. Und sie haben auch schlechte Aussichten, einen verlässlichen Partner zu finden und ihre Kinder mit ihm gemeinsam zu erziehen.

Obwohl Südafrika in Verfassung und Gesetzgebung vorbildliche Regelungen zur Gleichstellung sowie zum Schutz von Frauen hat und 43 Prozent der Abgeordneten weiblich sind, leiden vor allem die Frauen unter einer "toxischen Männlichkeit": Männer beharren auf Unterordnung, greifen zu Gewalt, um sie durchzusetzen und sich "Respekt" zu verschaffen. Zudem nehmen viele Männer ihre Verantwortung als Väter kaum wahr: Nur in 28,6 Prozent der schwarzen Familien leben die Kinder mit beiden Eltern zusammen.

Ein Land der Ungleichheit

Südafrika ist eine vielfach gespaltene Nation: Trotz der umfangreichen Investitionen in grundlegende Versorgung, der beschleunigten Quotenpolitik zugunsten schwarzer Bewerberinnen und Bewerber im Staatsdienst und der forcierten Beteiligung von Schwarzen an Wirtschaftsunternehmen hat das Land die am stärksten von Ungleichheit geprägte Gesellschaft der Welt. Der Gini-Koeffizient, das Maß für die Ungleichheit, hat sich in den vergangenen Jahren sogar noch verschlechtert, nur innerhalb der Minderheit der Weißen nahm die Ungleichheit leicht ab. Ihr Pro-Kopf-Einkommen ist noch immer fast achtmal so hoch wie das der Schwarzen. Die schwarze Bevölkerung hat sich ausdifferenziert: in eine große arme Mehrheit, eine wachsende und sehr konsumorientierte Mittelschicht und eine kleine Gruppe von Menschen, die politisch gut vernetzt und innerhalb ganz kurzer Zeit zu Millionären und Milliardären geworden sind.

Das so anspruchsvoll und mit Sympathie aus aller Welt gestartete "neue" Südafrika steckt ganz offensichtlich in einer gesellschaftlichen Krise. Darin zeigt sich zum einen das strukturelle Erbe der Apartheidpolitik, darin zeigt sich aber auch, dass die zur Korrektur ergriffenen Maßnahmen recht zwiespältig sind. Bei der Veränderung der durch die Apartheid geschaffenen strukturellen Ungleichheit sollte es um Gerechtigkeit gehen, doch heute geht es vor allem ums Geld. Vom hehren Anspruch der einstigen Befreiungsbewegung ANC ist nicht mehr viel übrig. Zwelinzima Vavi, der Generalsekretär von cosatu, ging im August 2010 sogar so weit, angesichts der Selbstbereicherung eines Teils des ANC Personals und der dafür geschaffenen Strukturen von einem "Raubtierstaat" zu sprechen, "in dem eine machtvolle, korrupte und demagogische Elite von politischen Hyänen vermehrt den Staat nutzte, um sich zu bereichern".

Schlendrian und Inkompetenz

Dass die Medien immer wieder Inkompetenz, Schlendrian und Pfründenwirtschaft aufdecken und die Regierungspolitik scharf kommentieren, ist insbesondere dem ANC ein Dorn im Auge. Der Vorschlag, ein "Medientribunal" zu schaffen, hat nicht nur Journalisten und Verleger alarmiert. Mit einem "Gesetz zum Schutz der Information" soll die Regierung außerdem Informationen, die bisher öffentlich zugänglich waren, als "geheim" einstufen können. Wer sie dennoch veröffentlicht, kann dann mit bis zu 25 Jahren Gefängnis bestraft werden. Noch sind die beiden Vorhaben in der parlamentarischen Beratung – doch das bloße Ansinnen hat so viele Befürchtungen geweckt, dass es die "Zivilgesellschaft" auf den Plan gerufen hat.

Anders als sein autokratischer Vorgänger Thabo Mbeki gesteht der derzeitige Präsident Jacob Zuma ein, dass nicht alles zum Besten stehe. Er hat es durch geschicktes Agieren und Lavieren verstanden, die verschiedenen Flügel der Allianz bei der Stange zu halten und Julius Malema, den Flegel an der Spitze der ANC-Jugendliga, endlich in die Schranken zu weisen. Eine Vision für das Land aber hat er nicht erkennen lassen, was insbesondere den linken Flügel erzürnt, der ihm zur Macht verholfen hat und nun erkennen muss, dass der Präsident und seine Vertrauten ein eher autoritär-konservatives Gesellschaftsverständnis haben.

Nelson Mandela, der eigentlich nie Präsident werden wollte, sich aber von der Partei in die Pflicht nehmen ließ, hat sich mit Kritik an seinen Nachfolgern zurückgehalten. Bereits 1998 notierte er, dass einstige Revolutionäre häufig der Gier verfielen und der Drang, öffentliche Gelder zur persönlichen Bereicherung abzuzweigen, am Ende den Sieg davontrage. Desmond Tutu, der so wunderbar zu loben versteht, hat Fehlentwicklungen und Versäumnisse immer wieder scharf kritisiert: "Bitte lasst uns, die Alten, nicht mit gebrochenem Herzen in unsere Gräber gehen." Dass die beiden wunderbaren Alten an gebrochenem Herzen sterben, ist nur schwer vorstellbar, dass sie sich Sorgen machen um ihr Land, das seine Freiheit erst jüngst so schwer erkämpft hat, sehr wohl.


Renate Wilke-Launer arbeitet als Journalistin in Südafrika und Deutschland. Ihr Beitrag erschien in voller Länge in der Mai-Ausgabe von "zeitzeichen - Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft".