"Unsere Europäische Union ist den gleichen Werten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialmodell kennen", erklärte eine festlich gestimmte Kanzlerin Angela Merkel im April vor drei Jahren im Bundestag. Anlass waren die pompösen Feierlichkeiten zum runden Geburtstag der "Sozialen Marktwirtschaft". Im Alltag der europäischen Arbeitswelt ist von diesen Werten bislang wenig angekommen. Es fehlt eine gemeinsame Sozialpolitik, mit der die Freiheit von Wirtschaft und Kapital vermenschlicht würde. Stattdessen wurde die Arbeitskraft zur Billigware, die grenzüberschreitend gehandelt wird.
Ausgerechnet am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, wird nun der letzte Schritt zur vollständigen "Arbeitnehmerfreizügigkeit" gegangen. EU-Bürger aus acht osteuropäischen Ländern können fortan ohne Beschränkung in Deutschland arbeiten und das zu fast jedem Preis. Bislang hat Deutschland - als letztes EU-Land neben Österreich - seinen Arbeits-"markt" noch abgeschottet.
Wie viele Esten, Letten, Litauer, Polen, Slowaken, Slowenen, Tschechen und Ungarn in den kommenden Wochen und Monaten zwischen Flensburg und Füssen einen Job suchen werden, weiß niemand. Das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnet mit 800.000 Zuwanderern bis Ende 2012. Andere Forscher erwarten noch mehr, das Arbeitsministerium weit weniger - Kaffeesatzleserei. Ebenso ungewiss ist, ob die Zuwanderung nach dem 1. Mai quasi als Welle über die Unternehmen schwappt oder anhaltend Arbeit suchende Menschen kommen.
Lange Erfahrungen mit Arbeitnehmerfreizügigkeit
Im sozialpolitisch mit Deutschland vergleichbaren Musterland Schweden blieb 2004 der erwartete große Andrang aus. Dabei liegen Polen und die baltischen Staaten historisch und geografisch nahe. Nahmen bis dahin 2.000 EU-Bürger pro Jahr eine Arbeit in Schweden auf, waren es fortan etwa 8.000 Menschen, die ihre wirtschaftliche Lage bessern wollten. Auch der befürchtete Sozialtourismus blieb aus, berichten schwedische Forscher. Typisch seien junge Gastarbeiter ohne Kinder, die für einige Zeit ihr Glück im Ausland suchten. Das sei für beide Seiten nützlich: Im Gastland werde ein Arbeitsloch gestopft, und zurück kämen besser qualifizierte und erfahrene Beschäftigte.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und andere Befürworter der Öffnung ab Mai halten die Zuwanderung für volkswirtschaftlich sinnvoll und nachhaltig beherrschbar. Außerdem würden im Aufschwung "zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht", meint IW-Direktor Michael Hüther. Mittelfristig könnten qualifizierte Zuwanderer den sich abzeichnenden Mangel an Fachkräften auffangen.
Nicht allein Schweden hat schon lange Erfahrungen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit gesammelt. Als die Europäische Union am 1. Mai 2004 um zehn Staaten erweitert wurde, verzichteten die meisten EU-Platzhirsche auf Einschränkungen für Arbeitskräfte aus den osteuropäischen Ländern. Einen Vollstopp verhängten nur ganz wenige, darunter die Bundesrepublik. 2009 verlängerte die schwarz-rote Bundesregierung dann zuletzt die Sanktionen gegen Polen, Tschechen und andere. Eine weitere Verlängerung der sogenannten Übergangsregelung wäre Europa allerdings nicht mehr vermittelbar gewesen. Zum 1. Mai gilt nun auch in Deutschland die volle Freizügigkeit für alle Jobsuchenden aus 24 Mitgliedstaaten.
Abwerbung aus ärmeren Ländern ethisch gerechtfertigt?
Hierzulande wird in Kirchen und Sozialverbänden kaum darüber gestritten, ob es ethisch zu rechtfertigen sei, wenn der reiche Westen teuer ausgebildete Fachkräfte aus dem armen Osten abwerbe. Thüringen lehnte schon vor Jahren trotz drohendem Ärzte- und Pflegemangel eine Anwerbung ab, um nicht die Versorgung der Patienten in anderen Ländern zu gefährden.
Deutsche Gewerkschaften wiederum befürchten Lohndumping und die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse. Nur in Betrieben, in denen Tarifentgelte gezahlt werden, gelten dieselben Bedingungen für ausländische wie für deutsche Beschäftigte. "Alle anderen Arbeitssuchenden", so der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Franz-Josef Möllenberg, "können durchaus auch zu Niedrigstlöhnen beschäftigt werden." Das sei für die Kolleginnen un Kollegen aus den acht EU-Staaten diskriminierend und für hiesige Beschäftigte arbeitsplatzgefährdend. Probleme kriegten obendrein Unternehmen, die tarifliche Gehälter zahlten. Ihnen werde ein Konkurrenzkampf mit "unverantwortlichen Billigheimern" aufgezwungen.
"Die christliche Bundesregierung versündigt sich an Arbeitnehmern und Arbeitgebern, wenn sie nicht endlich in die Gänge kommt", schimpft Gewerkschaftschef Möllenberg. Ein bundesweiter Mindestlohn und gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit könnten "Billigheimern" den Boden entziehen, auf dem sie gedeihen - ein Job für den Gesetzgeber in Berlin. Eine Forderung: Im nächsten Schritt sollte Europa vorbildliche soziale Standards setzen und für wirtschaftliche Angleichung sorgen. Schließlich möchten Menschen auf Dauer am liebsten dort arbeiten, wo sie zuhause sind.
Hermannus Pfeiffer ist Wirtschaftsexperte und Journalist in Hamburg.