Was macht Strahlung mit dem "Versuchstier Mensch"?

Was macht Strahlung mit dem "Versuchstier Mensch"?
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren waren tausende Menschen ungeschützt dem radioaktiven Fallout ausgesetzt. Bekannte Folgen für die Gesundheit sind unter anderem Schilddrüsenkrebs und Fehlbildungen. Zwei Organisationen haben in einer Studie Daten und Zahlen zusammengetragen, um Erkrankungen durch die radioaktive Strahlung zu dokumentieren.
21.04.2011
Von Thomas Klatt

Die 80-seitige Studie wirkt, als sei sie phasenweise von dem Science-Fiction-Autor Douglas Adams ("Per Anhalter durch die Galaxis") inspiriert gewesen: Nicht die Menschen beherrschen die Erde und führen in den Laboren ihre Experimente durch, sondern die Erde selbst, zumindest die nordwestliche Halbkugel ist seit dem 26. April 1986 zu einem einzigen großen Experimentallabor geworden. Die Versuchstiere sind jetzt nicht Ratten, Mäuse oder Kaninchen, sondern die Menschen selbst, und zwar millionenfach.

[listbox:title=Mehr im Netz[IPPNW-Dokumentation "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl"##Gesellschaft für Strahlenschutz]]

Die britische Sci-Fi-Satire ist aber längst bittere Realität geworden. Die aktuell überarbeitete und anlässlich des Jahrestages herausgegebene Dokumentation "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl – 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe" versucht anhand aller heute zur Verfügung stehenden Daten eine Übersicht der Schäden zu geben. Die Herausgeber Gesellschaft für Strahlenschutz e. V. und IPPNW "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/ Ärzte in sozialer Verantwortung e. V." zitieren zumeist aus unabhängigen russischen Quellen. 

Von den rund 830.000 Liquidatoren sind über 112.000 bereits gestorben. Keiner der noch lebenden am Katastrophenreaktor eingesetzten Soldaten und Arbeiter gilt heute als gesund. Schätzungsweise sind in ganz Europa strahlenbedingt bis zu 10.000 schwerwiegende Fehlbildungen bei Neugeborenen zu erwarten: erhöhte Raten von Anenzephalie (Fehlen des Gehirns), Spina Bifida (offener Rücken), Lippen/Gaumenspalten, Polydaktylie (Überzahl an Fingern und Zehen), Verkümmerung von Gliedmaßen. Nur allein im dem belorussischen Gebiet Gomel geht man in allen Altersgruppen von rund 100.000 zusätzlichen Schilddrüsenkrebsfällen aus. Auf Grund der eingeschränkten Zeugungsfähigkeit ist mit schätzungsweise einer Million fehlenden Kindern nach Tschernobyl zu rechnen.

Lückenlose Daten über Down-Syndrom in Berlin

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Die Studie gleicht dem Zusammentragen von Labor-Mosaiksteinen und bietet kein Gesamtbild der Schadenslage, da insbesondere staatliche Stellen auch nach einem Vierteljahrhundert noch längst nicht alle Untersuchungsergebnisse und Studien veröffentlicht oder frei zugänglich gemacht haben.
Nur selten ist die Datenlage so geschlossen eindeutig wie bei Prof. Dr. Karl Sperling, heute Leiter des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Berliner Charité. Der Mediziner stellte damals fest, dass in West-Berlin (in Ost-Berlin gab es keine für ihn zugängliche Datenerhebung) neun Monate nach Tschernobyl die Fälle von Trisomie 21 (Down-Syndrom) steil anstiegen. Statt der zu erwartenden zwei bis drei gab es im Januar 1987 plötzlich zwölf Down-Syndrom-Kinder. Ich acht dieser Fälle fiel der mutmaßliche Empfängnistermin in die Zeit des höchsten in Berlin gemessenen Radioaktivitätsanstiegs.

Fünf Berliner Paare zeugten ihr Kind während der Zeit der höchsten Strahlenbelastung vom 29. April bis 8. Mai 1986. Diskutiert wird eine direkte Wirkung von radioaktivem Jod-131 mit einer Halbwertzeit von acht Tagen, das über die Atemluft und die Nahrung aufgenommen wurde. Möglich ist auch eine direkte Wechselwirkung zwischen Eierstöcken und Schilddrüsen. Eine direkte Jodspeicherung in den Eierstöcken ist ebenfalls denkbar. Sperlings Zahlen sind außergewöhnlich exakt, da wegen der früheren Insellage West-Berlins und der Zuständigkeit seines Instituts für die Betreuung aller Kinder mit Down-Syndrom seine Erhebungen im Gegensatz zu den Daten anderer Bundesländer praktisch lückenlos sind. Andere Ursachen als die Radioaktivität für den signifikanten Krankheitsanstieg, etwa das Alter der Mütter, konnte Sperling definitiv ausschließen.

"Versuch" kann noch Jahrhunderte dauern

Auch wenn sich das radioaktive Jod von einst längst abgebaut hat, so belastet allein Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren auch heute noch künftige Eltern und ihre noch gar nicht geborenen Kinder. Daher befürchten die in der Studie zitierten Fachleute, dass der überwiegende Anteil genetischer Veränderungen erst in den noch folgenden Generationen sichtbar werden wird. Was bei Labor-Fliegen auf Grund schneller Generationen-Folgen längst nachgewiesen wurde, dauert beim "Versuchstier Mensch" aufgrund der viel längeren Lebenszeit vielleicht noch Jahrhunderte.

Die Studie der atomkritischen Ärzte geht davon aus, dass in der ersten heute lebenden Generation nach Tschernobyl erst zehn Prozent der insgesamt zu erwartenden genetischen Schäden auftreten. Auf der Nordhalbkugel käme man demnach in der ersten Generation auf 3.300 bis 23.000 und auf lange Sicht auf 30.000 bis 207.500 durch die Reaktorkatastrophe in der Ukraine genetisch geschädigte Menschen.

Die Zahlen der IPPNW-Studie sind bei aller Unvollständigkeit erschreckend, doch könnte die Offenlegung aller Untersuchungsergebnisse noch ein schlimmeres Bild zu Tage fördern. Die Ärzteorganisation kritisiert schon lange, dass zwischen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO seit 1959 eine Vereinbarung besteht, die Atomenergie zu fördern, die Bevölkerung aber vor den Risiken nur ungenügend aufzuklären und auch nicht ausreichend zu schützen. Die IPPNW drängt darauf, dass anders als nach der Tschernobyl-Katastrophe nun nach dem Fukushima-GAU die Weltbevölkerung endlich ohne Vorbehalte über das wahre Ausmaß der Katastrophe und deren Folgewirkungen aufgeklärt wird.


Thomas Klatt arbeitet als freier Journalist in Berlin.