Studie beweist: World Wide Web ist begrenzt

Studie beweist: World Wide Web ist begrenzt
Die Stimme aus dem Lautsprecher plappert in Höchstgeschwindigkeit. Bei diesem Tempo kann der normale Hörer bestenfalls Wortfetzen aufschnappen. Heiko Kunert aber versteht jedes Wort. Denn so wie manche Menschen Schnellleser sind, ist er ein Schnellhörer. Heiko Kunert ist blind und "liest" mit Hilfe einer Sprachausgabe an seinem Computer. Mit Hilfe dieser Technik kann der PR-Referent am PC ebenso selbstständig arbeiten wie ein Sehender. "Das Internet bietet Menschen mit Behinderung eine große Chance", sagt der 34-Jährige aus eigener Erfahrung.
08.04.2011
Von Claudia Rometsch

Tatsächlich nutzen immer mehr Behinderte die Möglichkeit, sich über das Internet zu informieren und zu kommunizieren. Das ergab die erste umfassende Studie zum Nutzungsverhalten von Menschen mit Behinderung im Auftrag der Aktion Mensch. Während der durchschnittliche Bundesbürger an 5,1 Tagen pro Woche ins Netz geht, besuchen Nutzer mit Behinderung rund 6,5 mal in der Woche das World Wide Web, heißt es in der Untersuchung "Web 2.0 / barrierefrei".

World Wide Web bietet viele Chancen

Die Studie zeige, dass das Internet die selbstständige Lebensführung aller behinderten Menschen stärke, sagt Iris Hobler von der Aktion Mensch. Der Nutzen der Kommunikation per Internet sei für Menschen mit Handicap besonders groß, bestätigt Aktion-Mensch-Mitarbeiterin Iris Cornelssen, die die Studie
begleitete. Das Internet helfe, körperliche Beeinträchtigungen zu kompensieren.

So nutzten Gehörlose das Internet zum Beispiel, um sich Filme in Gebärdensprache zuzuschicken, erklärt Cornelssen. Auch sei es eine wichtige Informationsquelle für Blinde. Das bestätigt auch Heiko Kunert. "Früher war es viel schwieriger für behinderte Menschen, an Informationen zu kommen." Das gilt für Sachtexte, Bücher, aber auch die Informationen aus der lokalen Tageszeitung seien früher für Blinde nicht zugänglich gewesen, sagt Kunert. Heute könnten sich Blinde mit Hilfe des Sprachprogramms an ihrem PC über die  Online-Ausgaben der Zeitungen aktuell informieren.

Auch das Einkaufen per Internet sei für viele Behinderte eine Errungenschaft, sagt Kunert. "In Online-Shops habe ich die Möglichkeit, auch mal alleine zu stöbern." Zudem hätten sich die beruflichen Perspektiven von Behinderten durch das Internet entscheidend verbessert, betont der PR-Referent und nennt Berufe
wie Online-Redakteur oder Software-Entwickler. Und nicht zuletzt erleichtere das Internet Behinderten, Kontakte zu knüpfen: "Die Unsicherheiten und Berührungsängste, die meist bei Alltagsbegegnungen mit Nicht-Behinderten erst einmal da sind, die gibt es im Web 2.0 nicht."

Behinderte Nutzer werden häufig vergessen

Dennoch: Das World Wide Web ist noch lange nicht barrierefrei. Auch hier stießen Menschen mit Behinderungen immer wieder auf unüberwindbare Grenzen, heißt es in der Studie der Aktion Mensch. Ein großes Hindernis seien zum Beispiel die sogenannten Captchas, sagt Cornelssen. Das sind nicht
maschinenlesbare, optisch verzerrte Zahlen- oder Buchstabencodes, die zum Beispiel bei der Registrierung für Communities oder Bankanwendungen vorgeschaltet sind.

Für Blinde seien auch unbeschriftete Grafiken oder Bilder ein Problem, weil die Sprachausgabe sie nicht erkennen könne, sagt Kunert. Lernbehinderte stolperten vor allem über komplizierte Anleitungen oder bürokratische Sprache im Internet, sagt Cornelssen. Die Aktion Mensch wünsche sich daher, dass
behinderte Nutzer bei der Konzeption von Internet-Seiten berücksichtigt würden. Oft werde schlichtweg vergessen, die Seiten auf Barrierefreiheit zu prüfen. Bislang sind lediglich Behörden verpflichtet, ihre Internet-Seiten barrierefrei zu gestalten.

Doch die Vorgaben des 2002 verabschiedeten Behindertengleichstellungsgesetzes gelten nicht für die freie Wirtschaft. Hier könne man nur an die Unternehmen appellieren, ihr Internet-Angebot so zu gestalten, dass es auch für behinderte Menschen zugänglich ist, sagt Cornelssen. Das liege letztlich auch im Interesse
der Unternehmen.

Die Organisation Aktion Mensch wurde 1964 als Aktion Sorgenkind gegründet. Im Jahr 2000 wurde sie umbenannt. Die Organisation fördert deutschlandweit soziale Projekte, um zum Beispiel die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Durch die Aktion Mensch-Lotterie wird ein Großteil der Erlöse eingenommen, die dann in die Förderung fließen.


 

epd