"Tatort: Im Netz der Lügen", 27. März, 20.15 Uhr im Ersten
Eine ebenso unbeugsame wie attraktive Richterin, die Straftäter die ganze Härte des Gesetzes spüren lässt: Die Parallelen zwischen der Hauptfigur dieses Bodensee-"Tatorts" und der weit über die Grenzen von Berlin hinaus populären Jugendrichterin Kirsten Heisig sind offenkundig. Hätte sie ahnen können, dass sich die Juristin im Sommer letzten Jahres das Leben nehmen würde, Dorothée Schön hätte ihr Drehbuch vielleicht modifiziert; doch da war der im Herbst 2009 produzierte Film längst abgedreht. Deshalb hat es einen bitteren Beigeschmack, wenn man schließlich um die unfreiwillige Heldin dieser Geschichte bangen muss.
Davon abgesehen erzählt die vor einem Jahr mit dem Grimme-Preis für ihre Vorlage zu dem Drama "Frau Böhm sagt nein" ausgezeichnete Autorin mit "Im Netz der Lügen" einen Krimi, in dem die Bilder eine deutlich größere Rolle spielen als sonst: Weil Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) Nachhilfe in Mikromimik bekommen haben, achten sie bei den Vernehmungen weniger auf die Aussagen der Verdächtigen, sondern bei der späteren Videosichtung vor allem auf winzige unkontrollierte Bewegungen in deren Gesichtern.
Studie der Gesichtszüge
Bestimmte Stellungen des Mundwinkels, ein kaum merkliches Lächeln, aufgeblähte Nasenlöcher, ein verstohlener Blick zu Uhr: Das ist durchaus interessant, auch wenn Schön nicht die erste ist, die das filmische Potenzial solcher physiognomischer Studien erkannt hat. Entwickelt wurde die Technik von Paul Ekman. Der amerikanische Psychologe ist Experte für Wahrnehmungsforschung und Vorbild für die Hauptfigur der US-Serie "Lie to me".
Aber diese Ebene ist ohnehin bloß Zugabe, die Handlung würde auch so funktionieren. Schön hat sich eine ziemlich perfide Intrige ausgedacht, Regisseur Patrick Winczewski hat sie mit Bedacht und unter weitgehendem Verzicht auf optische Spannungsverstärker umgesetzt: Beim morgendlichen Joggen wird Richterin Göttler (Karin Giegerich) von einem Mann überfallen. Sie wehrt sich, und da sie Gewichtsmanschetten an den Handgelenken trägt, erschlägt sie den Angreifer. Geschickt spart der Film diese Passage jedoch aus; gemeinsam mit den Ermittlern muss man sich auf die Aussage der Juristin verlassen.
Mit etwas Gewalt gewürzt
Eigentlich gäbe es auch keinen Grund, an ihrem Szenario zu zweifeln, wäre da nicht eine Verabredung auf einer Internetseite für Menschen, die ihr Sexualleben in gegenseitigem Einvernehmen gern mit ein bisschen Gewalt würzen. Dazu gehört auch Übereinkunft gespielter Vergewaltigungen. Die entsprechende Einladung ist unzweifelhaft von Göttlers Internetanschluss abgeschickt worden, gezeichnet mit "Justine"; und das ist nicht bloß der Titel eines einschlägigen Klassikers des Marquis de Sade, sondern auch der Spitzname der von den Kollegen bei Gericht als allzu ehrgeizig empfundenen Richterin.
Über weite Strecken lebt dieser "Tatort" vom Kräftemessen zwischen Richterin und Kommissarin, zweier starker weiblicher Figuren also, und da Karin Giegerich ihre Rolle mit sehr viel Persönlichkeit füllt, ist das darstellerische Duell recht reizvoll, was wiederum nicht zuletzt eine Frage der klugen Dialoge ist. Wie so oft bei den Konstanz-Krimis gilt das allerdings nicht für alle Mitwirkenden; gerade in einigen kleineren Nebenrollen scheinen die Schauspieler die Kürze ihres Auftritts durch besonders eifriges Engagement wettmachen zu wollen.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).