Demokratie aus Ruinen: Haiti wählt neuen Präsidenten

Demokratie aus Ruinen: Haiti wählt neuen Präsidenten
Wer die Stichwahl in Haiti am Sonntag gewinnt, übernimmt ein Land in Ruinen. Mehr als ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 leben immer noch 800.000 Menschen in Zeltlagern. Von den zehn Millionen Kubikmetern Schutt, die die Katastrophe hinterließ, ist erst ein Bruchteil weggeräumt. "Die Menschen fordern Lösungen", sagt die Sprecherin des Hilfswerks Oxfam, Cinta Pluma.
17.03.2011
Von Matthias Knecht

Die Haitianer haben die Wahl: Der Schlagersänger Michel Martelly und die Universitätsprofessorin Mirlande Manigat wollen sich den Erwartungen der Bevölkerung stellen. Der 50-Jährige mit dem charakteristischen Glatzkopf ist derzeit laut Umfragen Favorit für das Präsidentenamt bei den knapp vier Millionen Wahlberechtigten. Die Wahlbehörde ließ ihn erst nach monatelangem Tauziehen um die Auszählung der chaotischen ersten Wahlrunde Ende November zur Stichwahl zu. Die 71-jährige Verfassungsrechtlerin erhielt die meisten Stimmen im ersten Wahlgang.

Derzeit herrscht in Haiti vorsichtiger Optimismus, den bislang schleppenden Aufbau des Landes endlich anzugehen. Der Wahlkampf verlief ruhig, es kam nur vereinzelt zu gewalttätigen Zwischenfällen. "Die Leute hoffen, dass mit den Wahlen die Wende eintritt", sagt Pluma. Schon jetzt seien einige Fortschritte zu sehen. So habe sich die Zusammenarbeit zwischen den Behörden, den internationalen Gebern und den Tausenden von Hilfswerken verbessert.

Kandidaten stehen für verschiedene Stile

Beide Kandidaten versprechen, möglichst schnell Wohnraum zu schaffen und das lückenhafte Bildungs- und Gesundheitswesen auszubauen. Und beide wollen die Wirtschaft ankurbeln, Martelly mit Investitionen im bisher kaum ausgeschöpften Tourismus, Manigat über die seit Jahrzehnten vernachlässigte Landwirtschaft. Doch von einem wirtschaftlichen Aufschwung ist Haiti weit entfernt. 80 Prozent der 9,6 Millionen Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze.

Der Unterschied zwischen den Kandidaten liegt im Stil. Die promovierte Politologin Manigat gilt vielen als Vertreterin der korrupten und bürgerfernen Politikerkaste, weil ihr Mann 1988 vier Monate lang Präsident war. Anhänger hat Manigat, die sich für Menschenrechte einsetzt und gegen Vetternwirtschaft vorgehen will, vor allem an den Universitäten, unter der in Haiti starken feministischen Bewegung und bei vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Martelly, den Massen bekannt als Schlagersänger "Sweet Micky", preist sich hingegen als systemunabhängiger Kandidat. Er hat keinerlei politische Erfahrung, stellt sich als erfolgreicher Selfmade-Mann dar. Doch in den USA, wo er bis 2007 lebte, ist er hoch verschuldet. Journalisten, die danach fragen, droht er mit Repressalien. Unterstützt wird er unter anderem von den in Haiti weit verbreiteten evangelikalen Kirchen.

Frühere Diktatoren kommen zurück

Martelly reiht sich nahtlos in eine Reihe von Hoffnungsträgern und vermeintlichen Erlösern ein, von denen Haiti schon so viele hatte. Der bekannteste ist Jean-Bertrand Aristide, von dem sich Martelly nie klar distanzierte. Der ehemalige Armenpriester regierte Haiti mit Unterbrechungen von 1990 bis 2004, als ihn Proteste gegen Korruption und autoritäre Amtsführung ins Exil nach Südafrika zwangen. Aristide will jetzt in seine Heimat zurückkehren, laut seiner Sprecherin noch vor den Wahlen. Bereits im Januar kehrte ein weiterer früherer Diktator, Jean-Claude Duvalier, nach 25 Jahren Exil nach Haiti zurück.

Internationale Helfer bemühen sich derweil, ein Wahlchaos wie noch im November zu verhindern. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) schickt 200 Wahlbeobachter. Zudem ist seit Februar rund um die Uhr eine Telefon-Hotline in Betrieb, um den Bürgern zu erklären, in welchem der 1.500 Wahllokale sie abstimmen dürfen. Die EU hat mehr als sechs Millionen Euro zur organisatorischen Unterstützung und Beobachtung zur Verfügung gestellt.

Wie die Bürger will die internationale Gemeinschaft nach den Wahlen eine verlässlichere Regierung als die des scheidenden Präsidenten René Préval. Von großem symbolischen Wert für die Haitianer ist eine der letzten Entscheidungen dieser Regierung: Am Dienstag ließ er ankündigen, die Hauptstadtkathedrale, die bei dem Erdbeben fast vollkommen zerstört wurde, werde wieder aufgebaut. 

epd