Japanische Experten wollen auf abenteuerliche Weise den außer Kontrolle geratenen Block 4 im Atomkomplex Fukushima Eins kühlen. Es sei geplant, mit Hilfe von Hubschraubern Wasser durch Löcher im teilweise zerstörten Dach zu schütten, wie der staatliche Fernsehsender NHK am Dienstag berichtete. Damit sollen im Inneren Kernbrennstäbe gekühlt werden. Zuvor war bekanntgeworden, dass sich die Wassertemperatur im Abklingbecken der Brennstäbe bedrohlich erhöht hatte.
Block 4 ist der derzeit einzige unter den havarierten Meilern, der sich aus technischen Gründen nicht aus unmittelbarer Nähe mit Meerwasser kühlen lässt. Eine Explosion hatte Löcher in eine Wand sowie das Dach gerissen. In den japanischen Medien wurde vermutet, dass die Radioaktivität im AKW zu hoch für einen Einsatz von Menschen ist. Deshalb werde eine Lösung aus der Luft geprüft. Alternativ könnten Feuerwehrwagen an das Reaktorgebäude herangefahren werden, um durch die Löcher Wasser in den Reaktor zu spritzen, hieß es. Block 4 war noch vor dem Erdbeben am Freitag für Wartungsarbeiten vom Netz genommen worden. Deshalb lagern die Brennstäbe außerhalb der eigentlichen Schutzhülle des Reaktors.
Am Dienstagmorgen (Ortszeit) waren noch mehr als 800 Arbeiter und Techniker im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Eins. Sie arbeiteten fieberhaft daran, die sechs Reaktoren zu kühlen und damit eine gefährliche Kernschmelze zu vermeiden. Doch als eine Explosion die Hülle von Reaktor 2 beschädigte, stiegen die Strahlungswerte dramatisch und der Betreiber Tepco war gezwungen, alle bis auf 50 Arbeiter aus dem Kernkraftwerk abzuziehen. Die 50 Arbeiter versuchten weiterhin Meerwasser in die überhitzenden Reaktoren zu pumpen, um die Brennstäbe abzukühlen.
Japaner sauer: "Es wird nicht korrekt informiert"
Die Angst vor der Atomkatastrophe wächst in Japan. "Das wird ganz schlimm. Aber die Behörden berichten nicht richtig. Die sagen uns nicht, was wirklich ist. Die belügen uns. Wir alle haben solche Angst", erzählt Kiyoko Yoshimura aus Tokio verzweifelt. "Viele fliehen mit ihren kleinen Kindern, wer die Möglichkeit hat, geht in den Süden", sagt sie. "Ich bin in Sorge um meine Enkel, die sollen nicht verstrahlt werden." Man versuche, Normalität vorzugaukeln. "Es wird alles getan, um keine Panik auszulösen. Im Kindergarten nebenan soll es morgen ein großes Fest geben." Auch ihre Freundin Tomoko kritisiert: "Es wird nicht korrekt informiert."
Nach der Explosion in Reaktor 2 wird erhöhte Radioaktivität bis in die 240 Kilometer entfernte Hauptstadt Tokio gemessen. Die Bevölkerung kann die vielen Hiobsbotschaften kaum noch verkraften: "Innere Reaktor-Schutzhülle beschädigt", "Kernschmelze nicht ausgeschlossen" oder "sehr schlimme Situation" - die Medien verbreiten die dramatischen Nachrichten quasi im Minutentakt. Experten raten im staatlichen TV-Sender NHK, sich in gefährdeten Region möglichst nicht im Freien aufzuhalten.
Die Geduld hat bei vielen ein Ende, die Verzweiflung nimmt zu - und auch die Kritik an der Informationspolitik von Regierung und Betreiber des Atomkraftwerks (AKW), Tepco. Regierungssprecher Yukio Edano - bisher immer sehr zurückhaltend in seiner Bewertung - räumt nun eine Gesundheitsgefahr ausdrücklich ein. Ministerpräsident Naoto Kan, selbst unter Druck, greift den AKW-Betreiber an, er sei als Regierungschef zu langsam informiert worden. "Kan hat massiv auf den Tisch gehauen und auch NHK hat sich auf Tepco eingeschossen, aber Tepco bekommt jetzt natürlich auch ein bisschen die Sündenbockrolle", sagt Japanologe Reinhard Zöllner in Tokio.
Bewohner Tokios: Flüchten oder bleiben?
"Die Menschen sind stinksauer", erzählt Zöllner. "Erst hieß es immer: "Ja, wir haben die Situation im Griff". Und jetzt die plötzliche Anordnung nahe Fukushima, dass alle weg müssen." Die Anspannung wachse massiv, aber die Stimmung sei nicht in Richtung Panik oder Chaos gekippt, glaubt er. "Die Regale werden leerer, die Warteschlangen länger, viele Grundschulen machen nach vier Stunden schon zu, weil die Lebensmittel für die Schulspeisung fehlen. Und immer mehr Leute verlangen konkrete Infos", beschreibt er die Lage in der Metropole. "Wir sind hier heute Morgen alle sehr schockiert gewesen, wir dachten: Das ist jetzt der Super-GAU. Aber die Lage scheint sich wohl doch noch mal zu stabilisieren."
In den Fernsehbildern spiegeln sich Erschöpfung und Zweifel der Betroffenen: "Es war sehr beängstigend", berichtet eine evakuierte Frau im japanischen TV nach der jüngsten Explosion im Reaktor. "Die Atomkraft macht mir sehr viel Angst", sagt ein Betroffener auf n-tv. Viele bemängeln, die Regierung verschweige ihnen die Wahrheit, das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe. Weitere Menschen müssen Schulen, Turnhallen und andere Provisorien aufsuchen, alles zurücklassen. Mehrere Hunderttausend sind obdachlos, ihr einstiges Leben im Hightech-Land reduziert sich auf eine kleine Matte und ein paar Reisbällchen.
Auch Michael Paumen aus Yokohama nahe Tokio meint, die Informationspolitik der Regierung sei schlecht: "Hier erzählt einem keiner die Wahrheit." Seine japanische Frau und die beiden Töchter sind schon nach Kyoto ausgewichen. "Ich kann jeden verstehen, der jetzt flüchtet", sagt Zöllner. "Aber ich glaube, die große Mehrheit denkt nicht: Nach mir die Sintflut - und bleibt. Wenn im Großraum Tokio nicht mehr gearbeitet würde, wäre das auch das Ende der japanischen Wirtschaft - und würde einen Wiederaufbau unmöglich machen." Kiyoko Yoshimura dagegen überlegt, ob sie das Land nun verlassen soll: "Eine Freundin in Spanien hat mir und meiner Familie angeboten, dort unterzukommen."