Die Welt hat Angst vor einem zweitem Tschernobyl

Die Welt hat Angst vor einem zweitem Tschernobyl
Ein Vierteljahrhundert nach Tschernobyl geht in der Welt die Angst vor einer neuen atomaren Katastrophe um. Nach dem verheerenden Erdbeben in Japan, dem eine Flutwelle folgte, zerstörte am Samstag eine gewaltige Explosion Teile des Atomkraftwerks in Fukushima. Widersprüchliche Angaben gab es zur Frage, ob bereits eine Kernschmelze eingetreten ist. Auch das ganze Ausmaß der humanitären Katastrophe in der Unglücksregion war am Abend noch immer nicht abzusehen.

Offiziell geht die Regierung von rund 1.700 Toten aus. Die Zahl dürfte aber erheblich höher liegen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO wurden bislang 621 Leichen geborgen, 645 Menschen gelten als vermisst. Etwa 210.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Nach japanischen Behördenangaben fehlten allein in der schwer betroffenen Provinz Miyagi am Samstag von 9.500 Menschen jedes Lebenszeichen.

Die Bilder von der Explosion im Kraftwerk Fukushima Eins hatten die Angst vor einer Kernschmelze geschürt. Mit ungeheurer Wucht wurden Trümmer in die Luft geschleudert, große Rauchwolken breiteten sich über der Anlage aus. Nach Angaben des Kraftwerksbetreibers gab es jedoch keinen Schaden am Reaktorgehäuse. Es sei mit keinem großen radioaktiven Leck zu rechnen. Drei Anwohner wurden nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Kyodo verstrahlt. Nach dem Beben und dem Tsunami vom Freitag hatte sich die Lage in den benachbarten Atommeilern Fukushima 1 und 2 durch den Ausfall des Kühlsystems dramatisch zugespitzt.

Greenpeace: Hälfte der Reaktoren ohne Kühlung

Unklar war, wie groß die Gefahr einer Kernschmelze war. Japans Premierminister Naoto Kan zeigte sich zwar besorgt über die Lage, sprach aber nicht von einer Kernschmelze. Allerdings hatte die Atomsicherheitskommission schon vor der Explosion davon gesprochen, dass möglicherweise in dem Reaktor eine Kernschmelze ablaufe. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagte am Samstagabend in der ARD, es spreche vieles dafür, dass der Prozess der Kernschmelze begonnen habe.

Ein Greenpeace-Sprecher sagte der Deutschen Presse-Agentur, dass neben der möglichen Kernschmelze in Block 1 in einem weiteren Kraftwerksblock ein solches Szenario drohe. "Fünf von zehn Reaktoren in Fukushima sind ohne Kühlung", sagte der Sprecher unter Verweis auf Informationen aus der Krisenregion. Angesichts der Verkettung unterschiedlicher Ereignisse sei die Lage womöglich außer Kontrolle. "Es ist dramatisch, weil derzeit scheinbar unkontrolliert Radioaktivität austritt."

Die Verantwortlichen versuchten am Samstag, das Kraftwerk (Foto: dpa) unter anderem mit Meerwasser zu kühlen. Fukushima liegt direkt am Pazifik. Nach der Explosion hatte die Regierung den Evakuierungsradius um die beschädigten Kernkraftwerke auf 20 Kilometer verdoppelt. Zu der Explosion war es während eines Nachbebens gekommen, wie der Betreiber der Anlage laut der Nachrichtenagentur Kyodo berichtete. Der Problemreaktor stand nach Angaben aus einer internationalen AKW-Datenbank kurz vor der Stilllegung.

"Keine Gefahr für Deutschland"

Laut Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) geht für Deutschland keine Gefahr von dem beschädigte Atomkraftwerk aus. "Wir gehen davon aus, dass eine Gefährdung, eine Beeinträchtigung unseres Landes praktisch ausgeschlossen werden kann", sagte Röttgen in Siegen. Gründe dafür seien die sehr große Entfernung von Japan und die derzeitige Wind- und Wetterlage. Nach den Worten Röttgens mehren sich die Anzeichen für eine Kernschmelze in dem beschädigten Reaktor.

In Deutschland wird nach dem Reaktorunfall über Konsequenzen gestritten. SPD, Grüne und Linke erinnerten an die jüngste Laufzeitverlängerung für deutschen Atommeiler und betonten, die Kernkraft sei auch hierzulande nicht beherrschbar. Oppositionspolitiker, Verbände und Initiativen forderten, die deutschen Anlagen baldmöglichst abzuschalten. Zehntausende Atomkraftgegner demonstrierten mit einer Menschenkette von Stuttgart zum Kernkraftwerk Neckarwestheim für einen sofortigen Atomausstieg.

Hunderttausende in Ecuador evakuiert

Das gewaltige Beben hatte Japan am Freitag gegen 14.45 Uhr Ortszeit (6.45 Uhr MEZ) erschüttert. Im gesamten Pazifikraum waren danach in etwa 50 Ländern zeitweise Tsunami-Warnungen ausgelöst worden. In Kalifornien wurde ein junger Mann von der Welle mitgerissen und ertrank. In Ecuador waren mehr als 260.000 Menschen aus küstennahen Regionen in Sicherheit gebracht worden, in Chile wurden ebenfalls Zehntausende Bewohner aus tief gelegenen Küstenstrichen in höheres Gelände gebracht. In Indonesien tötete der Tsunami einen Menschen und zerstörte etliche Häuser.

Nach Angaben von Wissenschaftlern hat das Erdbeben mit seiner Wucht große Landmassen verschoben und den Lauf der Welt verändert. Die japanische Hauptinsel sei um 2,4 Meter verrückt worden, sagte Kenneth Hudnut von der US-Geologiebehörde dem Fernsehsender CNN. Das italienische Institut für Geophysik und Vulkanologie ermittelte nach eigenen Angaben außerdem, dass das Beben die Achse der Erdrotation um rund 10 Zentimeter verschoben hat. Das wäre wahrscheinlich die größte Verschiebung durch ein Erdbeben seit 1960, als Chile erschüttert wurde.

dpa