Theologie für das Leben: Die Liebe ist unwiderstehlich

Theologie für das Leben: Die Liebe ist unwiderstehlich
Die Debatte um homosexuelle Pfarrerinnen und Pfarrer hat in den vergangenen Wochen auf evangelisch.de breiten Raum eingenommen. Dabei ging es auch grundsätzlich um die Frage, ob Homosexualität mit biblischen Grundsätzen vereinbar sei. Unsere Gastautorin Valeria Hinck hat sich intensiv persönlich und theologisch mit dieser Frage auseinander gesetzt und ist zu dem Schluss gekommen: Die Bibel bietet kein überzeuendes Argument gegen verantwortlich gelebte Homosexualität.
28.02.2011
Von Valeria Hinck

Inmitten all der theologischen Stimmen habe ich nun einen Gaststatus: wohl auch als pietistisch geprägter Christenmensch, der Gott und die Bibel liebt. Aber eben auch als Christenmensch, der selbst homosexuell empfindet. Um uns homosexuelle Christen geht es hier - dennoch werden Homosexuelle in solchen Diskussionen sonst selten gefragt. Ja, unsere Stimme wird unter Stichworten wie "Betroffenenliteratur" auch von manchen ganz gern beiseite-diskreditiert.

Freude über zarten Wandel auch bei Evangelikalen

Theologie, die relevant für das Leben sein will, sollte die ehrlich-offene Auseinandersetzung mit den Lebenden und ihre eigene Auswirkung auf deren konkrete Lebens-Situationen nicht scheuen. Und dies fehlt mir gelegentlich in Betrachtungen zum Thema. Ist Betroffensein bereits ein K.O.-Kriterium für sachliche Richtigkeit? Und ist es unchristlich, sich mit-betreffen zu lassen?

In vielen Jahren der persönlichen und theologischen Auseinandersetzung habe ich (und viele andere homosexuelle Christen mit mir) öfter fertige Antworten als offene Fragen erlebt, mehr vorgefasstes Wissen als interessiertes Wissenwollen, mehr Voreingenommenheit als ein Annehmen dessen, was tatsächlich im gelebten Leben zum Ausdruck kommt. Um so dankbarer freue ich mich an dem zarten Wandel, der sich langsam auch in evangelikalen Kreisen hierzu andeutet.

Da gibt es inzwischen eine wachsende Anzahl Christen, die nicht zufrieden damit ist, homosexuelle Menschen als Kinder des Zornes Gottes zu klassifizieren und unter Diebe, Mörder, Vergewaltiger zu reihen. Sind sie doch Menschen, die eben nicht einfach "ihren Lüsten" folgen, sondern lediglich dementsprechend leben wollen, was ihre tiefste und innerste Persönlichkeit ausmacht.

Spürbarer Segen unter homosexuellen Christen

Da gibt es inzwischen eine wachsende Anzahl Christen, die nicht damit zufrieden sind, ihre einzigen Kenntnisse zu Homosexuellen von selbst ernannten Fachleuten zu beziehen, deren zuvor erklärtes Ziel aber bereits die Bekämpfung von Homosexualität ist. Sondern die sich - durchaus skeptisch, aber offen - selbst ein Bild machen will und gezielt homosexuelle Christen aufsuchen und ihnen "auf den Zahn fühlt" (wir scheuen das nicht).

Dieser wachsenden Anzahl von Christen steht dann vor Augen, was längst Realität ist: dass homosexuelle Mitchristen nicht mehr und nicht weniger als heterosexuelle im Glauben stehen, in Geisteskraft die Schrift auslegen und verkündigen, im spürbaren Segen Gemeindegruppen leiten, in der Seelsorge ihre Brüder und Schwestern liebevoll im Glauben stärken, vielleicht eine gelungene und vorbildliche Partnerschaft vorleben, die unvoreingenommene Menschen ihrer Umgebung schon zur Ehe oder in ihrer Ehe ermutigt haben.

Und diese wachsende Anzahl von Christen erlebt es als Widerspruch, wenn sie diesen Menschen zuschreiben soll, darin "den Lohn ihrer Verirrung an sich selbst zu erfahren" oder damit aus der Verankerung im Reich Gottes zu fallen. Diese wachsende Anzahl von Christen erkennen in einer solchen Beurteilung auch nicht die liebevolle, seelsorgerliche Zuwendung ohne jegliche Herabminderung, die ja von allen hier gefordert wurde. Und sie empfindet schmerzvoll, einen Segen quasi "im Nachhinein" absprechen zu sollen, den Gott nach ihrem klaren Eindruck ungeachtet aller theologischen Debatten längst verliehen hat.

Welchen Stellenwert hat die Liebe?

Dass der Sabbat (d.h. das Gebot) für den Menschen und seine konkrete Lebenssituation gemacht sei und nicht der Mensch für den Sabbat, ist keine Schliche einer Liberalisierungslobby. Sondern es ist programmatische Forderung Jesu Christi selbst, mit der er eine rein buchstäbliche Auslegung (tatsächlich: "keinerlei" Form von Arbeit am Sabbat, vgl. Ex 20,10) "überbot" und auf die Berücksichtigung von Lebensrealitäten verwies. Theologie, die sich in Christus aufgehoben weiß, kann sich durch das Leben getrost in Frage stellen lassen, statt sich auf ein bloßes "das Wort muss man eben stahn lassen" zurückzuziehen. Meines Erachtens ist es gerade die Position in und aus der Gemeindeverantwortung, die dringlich einen anderen Umgang mit Homosexuellen erfordert, als er bisher verfolgt wurde.

Mit Interesse verfolge ich, welche Rolle der Liebe in vielen Argumentationen zufällt (oder: welche ihr zugestanden wird). Dass die Liebe das "Rückgrat" des christlichen Glaubens und Lehrens sein muss, ist wiederum keine Erfindung postmoderner Weichspülgesinnung, sondern das einheitliche Zeugnis der Schrift: Liebe ist das Kriterium, worin Jesus und allen Aposteln zufolge "das ganze Gesetz und die Propheten hängen" und "das höchste und größte Gebot" (Mt 22,37-40), das "königliche Gesetz (Jak 2,8), "das Gebot von Anfang" (2. Joh 5), also das Gebot schlechthin. Liebe ist letztlich entscheidend für die wahre "Erfüllung des Gesetzes" (Röm 13,8-10).

Bisher habe ich auf zwei Fragen keine wirklich konkrete und plausible, Homosexualität ausschließende Begründung erhalten (die sich nicht mit sich selbst begründet!): Womit wird Gottesliebe oder Menschenliebe konkret und tatsächlich verletzt durch in Liebe und Verantwortung gelebte homosexuelle Partnerschaft? Warum sollte Gottesliebe oder Menschenliebe durch in Liebe und Verantwortung gelebte homosexuelle Partnerschaft nicht verwirklicht werden können?

Muss die Ethik auf die Liebe aufpassen?

Die zentrale Frage scheint mir die: Ist es die Ethik, die am Weg steht und sich von der Liebe die Richtung weisen lässt? Oder ist es die Liebe, die am Weg steht, und sich von der Ethik die Richtung weisen lassen muss? Ist christliche Ethik radikal der Liebe verpflichtet – oder muss die Ethik auf die Liebe "aufpassen"? Oft beschleicht mich das Gefühl, Christen glauben, Liebe sei so etwas wie ein allzu zutraulicher Hund, der ständig in Gefahr steht, sich in irgendeinem Dreck zu wälzen und jedem Dahergelaufenen schwanzwedelnd entgegenzulaufen – und die knappe Leine der Ethik sei nötig, um das zu verhindern.

Freilich fällt es mir von der Schrift her schwer, die Liebesethik durch eine Schöpfungsethik begrenzen zu wollen. Wenn Jesus im Scheidungsverbot auf den Schöpfungswillen Gottes zurückgreift (Mt 19), so hakt doch Paulus bei diesem Thema wiederum mit der Liebesethik als Kriterium ein: im Sinne einer möglichen, "not-wendigen" Scheidung als "Frieden"-schaffender Lösung (1.Kor 7,12ff). Er scheut sich also nicht, an die Schöpfungsvorgabe noch einmal die Liebe als Entscheidungsrichtschnur anzulegen.

Auch der Sabbat wird von der Schrift ausdrücklich in der Schöpfungsordnung verankert (vgl. Ex 20,10f.). Dennoch unterwirft Jesus ja gerade ihn in seiner Auslegung der Liebesethik. Und beruft sich Paulus für seine Zeit nicht auch auf die Schöpfungskonstellation, wenn er Frauen das Lehramt verbietet (vgl. 1. Tim 2,12-14)? Und haben Christen dies heute nicht auch längst "überboten" - letztlich auch in Berufung auf die Liebesethik?

Die Schöpfungsordnung - kein geschlossenes System

Ist ein Leitbild – selbst wenn es sich auf die Schöpfung berufen kann – notwendigerweise ein geschlossenes System? Die Schilderungen der Genesis sind ein Schatz für jeden Ausleger. Aber ich sehe in ihnen keine eindeutige Antwort auf die entscheidende Frage, ob die dortige Zuordnung von Mann und Frau ein eisenhartes Monopol konstituiert, das für niemand und unter keinen Umständen eine Ausnahme duldet. Es besteht kein Zweifel, dass Gott in Mann und Frau den positiven "Prototyp" partnerschaftlich-liebender Beziehung geschaffen hat. Doch erfordert dies tatsächlich automatisch den Negativschluss und –ausschluss? Welchen Schaden nimmt denn die Standardform, wenn sie als "Leitbild" für eine analoge Form dient für die, die dem Prototyp nicht entsprechen können? Ich entdecke einen Ausschluss in der Genesis nicht so unmissverständlich.

Wer sich zumindest einmal auf den Gedankengang einlassen mag, dass die Schöpfungsgeschichte kein geschlossenes System postuliert, wird mit Recht danach fragen, woran er sich dann orientieren soll, damit schließlich nicht auch ein Josef Fritzl eine Legitimierung für sein Handeln fordern kann? Nun, genau wie Jesus in der Frage "Wie ist die Schöpfungsordnung der Sabbatruhe auf konkretes menschliches Leben anzuwenden?" gehandelt hat: hier kann nur die Liebesethik Richtschnur sein. Sie lässt keine Ausbeutung, Gewalt oder Missbrauch zu. Wohl aber Verantwortung, Respekt, Fürsorge und Treue.

Es steht nicht die Zerstörung aller Werte auf dem Spiel

Eben diesen Ansatz sehe ich in der Erläuterung zu §39 des Pfarrdienstgesetzes: Ehe bleibt das Leitbild. Aber der erweiterte Begriff "familiäres Zusammenleben" öffnet die Tür für homosexuelle Partnerschaften, die einer Liebesethik entsprechen.

Sei es Sklaverei und Apartheid, sei es Frauenordination – in wie vielen Fragen hat die Kirche das, was das Bibelwort vorzugeben schien, nicht schon aus der Liebesethik heraus "überboten", bewegt von dem Gedanken, nicht durch ein Festhalten am Buchstaben einer Menschengruppe fundamental Unrecht zuzufügen und dadurch größere Schuld auf sich zu laden? Erinnern wir uns aber, dass auch in diesen - heute unter evangelischem Bekenntnis selbstverständlich "abgehakten" - Fragen immer sowohl mit der Schöpfungsordnung argumentiert wurde als auch die Zerstörung aller Werte als auf dem Spiel stehend verkündet wurde.

Nicht immer war der gefürchtete Zeitgeist in solchen Fragen der falsche Ratgeber. Vielleicht lässt Gott manchmal, "wenn diese schweigen, die Steine schreien" (Luk 19,40). Ich glaube, dass die Steine rufen: "Gebt homosexuellen Paaren im Pfarrhaus eine Chance und ihr werdet sehen - unwiderstehlicher als Geschlechterkonstellationen ist die Liebe".

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Valeria Hinck (Jahrgang 1960) ist Fachärztin für Innere Medizin in Landau/Pfalz.

Ihr Buch "Streitfall Liebe. Biblische Plädoyers wider die Ausgrenzung homosexueller Menschen" ist 2007 in zweiter Auflage im pro literatur verlag in Mering erschienen.

Sie ist Vorstandsmitglied von Zwischenraum e.V., Verein im Diakonischen Werk.