"Tatort: Leben gegen Leben", Sonntag, 27. Februar, 20.15 Uhr im Ersten
Spannung entsteht in der Regel aus der Identifikation mit einer Hauptfigur: Ist sie in Gefahr, leidet man buchstäblich mit ihr. Meist beschränken sich diese Momente des Mitgefühls auf die packenden Höhepunkte des Films. Schon allein aus diesem Grund nimmt Cenk Batu vom Hamburger LKA eine Sonderstellung unter all den TV-Kommissaren ein. Die Spannung resultiert nicht aus der Mördersuche, denn als verdeckter Ermittler weiß er in der Regel, wer die Verbrecher sind. Aber weil er permanent darauf achten muss, seine Rolle durchzuhalten, kommt er nie zur Ruhe; und die Filme auch nicht.
Autor und Regisseur Nils Willbrandt treibt das Spannungsmoment hier auf die Spitze, weil man als Zuschauer nicht nur um Cenk Batu fürchtet: Er ist in eine Bande eingeschleust worden, die mitten in Hamburg illegal mit Organen handelt. Unfreiwillige Spender sind entführte Kinder, meist aus Osteuropa, aber auch obdachlose einheimische Jungen und Mädchen. Als Batu die junge Amelie überführen soll, greift sie ihm ins Lenkrad, verursacht einen Unfall und flieht. Nun steht er unter doppeltem Druck. Die Auftraggeber wollen natürlich, dass er das Mädchen wiederfindet, und sein Vorgesetzter (Peter Jordan) will Amelie als Köder nutzen, um die Verbrecher zu schnappen; aber Batu weiß, dass er damit das Leben des Mädchens aufs Spiel setzen würde.
Viel Handlung mit wenig Dialog
Nicht nur inhaltlich, auch stilistisch gibt es offenkundige Unterschiede zum üblichen Sonntagskrimi: Weil Batu permanent unterwegs ist, gibt es viel mehr Außenaufnahmen als sonst; das lässt die Krimis aus Hamburg deutlich dynamischer wirken. Außerdem ist Mehmet Kurtulus ein ungemein physischer Schauspieler. Batu steht zumindest im Einsatz ständig unter Strom, es gibt nur wenige Momente der Entspannung. Zwar hat er oft telefonischen Kontakt zu seinem Chef, aber trotzdem vermittelt sich die Handlung viel weniger über den Dialog als andere TV-Krimis. Um so größer ist die Herausforderung an die Schauspieler, und ausgerechnet die jüngste im Bunde besteht sie glänzend.
Seit dem Drama "Keine Angst" ist Michelle Barthel als Naturtalent bekannt, aber hier zeigt die junge Frau, wie gut sie spielen kann. In der emotionalen Schlüsselszene des Films, als Batu Amelie an einem Obdachlosentreff aufstöbert, kommen beide gänzlich ohne Worte aus; dafür ist der Moment umso bewegender. Die tiefe Verbundenheit zwischen dem Kommissar und dem Mädchen ist auch Voraussetzung dafür, dass Batu in einer beklemmend realistisch inszenierten Szene sein Leben riskiert. Nicht nur aus diesem Grund geht einem der Film an die Nieren.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).