"Meine Eltern waren arme Bauern mit etwas Land. Doch mein Bruder und ich sahen keine Perspektive und kein Auskommen für uns in unserem Heimatdorf im Nordosten Afghanistans, in der Provinz Laghman. Deswegen beschlossen wir im April 2008 zur Armee zu gehen. Talibankämpfer vor Ort erfuhren von unserem Entschluss Soldaten zu werden und drohten uns, wir sollten das lieber nicht tun. Wir nahmen die Drohungen nicht so ernst.
Nach fünf Monaten Soldatenausbildung beschloss mein Bruder unsere Eltern zu besuchen. Als er in den Bus stieg, warnte ich meinen Bruder noch, er solle keine Sachen mitnehmen, die ihn als Armeeangehörigen kennzeichnen könnten. Er sagte, er würde schon aufpassen. Auf der Reise stoppte eine Talibanmiliz den Bus und kontrollierte alle Passagiere. Dabei fand man bei ihm den Armeeausweis, den er vergessen hatte, aus seiner Brusttasche zu holen. Er wurde von den Taliban verschleppt, der Rest der Reisenden durfte weiter fahren.
Die Leiche meines Bruders lag auf der Straße
Ich versuchte in den nächsten Tagen meinen Bruder übers Handy zu erreichen. Als dies nicht gelang, nahm ich mir Urlaub, um ihn zu suchen. Schließlich erzählte mir mein Onkel, er habe gehört, dass die Taliban meinen Bruder verschleppt und getötet hatten. Die Leiche meines Bruders wurde später in der Nähe unseres Dorfes auf der Straße gefunden.
Foto: PilzFotogafie/photocase
Ich blieb zunächst bei meinen Eltern und meinen anderen Geschwistern. Dann kam es dort zu heftigen Kämpfen. Denn zum ersten Mal waren französische und amerikanische Truppen in unserer Gegend. Sie suchten nach Taliban, die sich versteckt hielten. Die Dörfer wurden aus der Luft angegriffen – ungefähr 24 Stunden dauerten die Kämpfe. Dabei starben 13 Soldaten und etwa 35 Dorfbewohner, darunter auch meine Schwester und ein Bruder.
Meine Mutter, mein Vater und ich hatten bei Ausbruch der Kämpfe in die nahe gelegenen Berge fliehen können. Doch als wir in unser Dorf zurückkehrten, sahen wir, dass alles zerstört war, auch unser Haus. Wir mussten die Toten liegenlassen, wo sie waren, und flohen, um unser Leben zu retten. Denn wir hätten von den Nato-Truppen für Talibankämpfer gehalten werden können. Oder den Taliban in die Hände fallen können. Wir – eine Gruppe von Überlebenden aus unserem Dorf – machten uns zu Fuß auf den Weg. Nach etwa sechs Stunden kamen wir in einen Ort, in dem wir von den lokalen Behörden versorgt wurden und in Zelten unterkommen konnten. Hier blieben wir etwa drei bis vier Tage. Ich war sehr verzweifelt und niedergeschlagen, da ich in kurzer Zeit zwei Brüder und meine Schwester verloren hatte.
Die Taliban wollten mich als Spitzel
Dann erreichte mich eine Nachricht der Taliban, die offensichtlich erfahren hatten, wo ich mit meinen Eltern untergekommen war. Sie teilten mir mit, dass ich nun für sie arbeiten solle. Ich hätte ja gesehen, was mit meinem Bruder geschehen sei. Auch müsse ich an die Sicherheit meiner Familie denken. Ich sollte für sie die Positionen der Amerikaner ausspähen und mittels eines Handys mitteilen. Ich reagierte zunächst nicht darauf. Dann wurde ich von einem Taliban noch mal direkt angesprochen. Ich war sehr verzweifelt, da ich nicht wusste, was ich machen sollte.
Der einzige Ausweg erschien mir die Flucht. Ein Freund von mir nahm Kontakt zu Schleppern auf und lieh mir Geld, umgerechnet etwa 8.000 US-Dollar. So floh ich aus Afghanistan, ohne mich von meinen Eltern zu verabschieden. Denn hätte ich mich von ihnen verabschiedet, hätte ich auch ihr Leben gefährden können. Zunächst ging es nach Pakistan und dann in den Iran. Ich wurde oft kontrolliert und auch einige Male für kurze Zeit ins Gefängnis gesteckt. Allein für die Überquerung der iranisch-türkischen Grenze benötigte ich drei Versuche. Drei Monate waren vergangen, ehe ich endlich in der Türkei war.
Hinter der Grenze wurde ich mit anderen Flüchtlingen in einen Container auf einem LKW gesteckt. Wir waren zusammengepfercht – etwa 24 Stunden dauerte die Fahrt. Die Menschen hatten Durst und Hunger. Einige schrien oder wurden ohnmächtig. Auch ich wurde kurzzeitig besinnungslos. Es herrschte ein bestialischer Gestank, da wir keine Möglichkeiten hatten, unsere Notdurft zu verrichten. Als wir schließlich anhielten und sich die Türen öffneten, fielen die Menschen nach draußen und schnappten nach Luft. Wir waren in der Nähe von Izmir. Hier blieb ich ungefähr einen Monat.
Ich bekam das Boot nicht unter Kontrolle
Dann erklärte uns der Schlepper, dass es bald weitergehe. Er fragte mich, ob ich sein Kapitän sein wolle. Ich wusste nicht, was er meinte, sagte aber ja, da ich ihn nicht verärgern wollte. Eines Nachts wurden wir zusammengerufen, eine Gruppe von 20 bis 25 Menschen. In einem kleinen Transporter brachten sie uns an die Küste. Dort warteten zwei Türken mit einem kleinen Boot mit Außenmotor. Da verstand ich, dass ich das Boot steuern sollte. Ich sagte, dass ich das noch nie gemacht habe. Doch die beiden Männer sagten, das sei wie Motorrad fahren.
Foto: behrchen/photocase
Alle wurden in das Boot geladen. Es waren auch Frauen mit kleinen Kindern in der Gruppe. Einer der beiden Männer erklärte mir, wie ich steuern, beschleunigen und bremsen könne. Nach dieser kurzen Einführung sagte er noch, ich solle immer in Richtung der Lichter vor uns fahren, dann würden wir da schon heile ankommen. Ich bekam das Boot aber nicht unter Kontrolle. Wenn ich rechts wollte, fuhren wir links und umgekehrt. Die Menschen fingen an unruhig zu werden, einige schimpften oder schrien. Das ging etwa eine halbe Stunde so, dann kamen uns die beiden Türken auf einem Boot entgegen. Sie erklärten mir noch mal, wie ich zu steuern hätte und fuhren wieder fort. Einige Zeit später erfasste uns plötzlich ein Scheinwerfer von einem türkischen Polizeiboot. Wegen des Wellengangs hatten wir Mühe, nicht zu kentern. Die Polizisten forderten uns per Lautsprecher auf, stehen zu bleiben. Die Menschen im Boot schrien und waren verzweifelt. Die Polizisten warfen uns Seile zu. Dann zogen sie uns an das Boot heran, ließen Leitern herunter und wir stiegen in das Polizeiboot. Mich bedrohten sie sofort mit Pistolen. Sie glaubten offensichtlich, dass ich der Schlepper sei. Ich versuchte ihnen klar zu machen, dass ich auch nur ein Passagier sei und wurde zu den anderen gebracht. Dann haben sie unser Boot versenkt.
Als wir an Land zurückkamen, sagte ein anderer Mann aus Afghanistan zu mir, dass wir fliehen müssen. Ich sagte, das sei schwierig, weil doch überall Polizei sei. Doch es ergab sich tatsächlich die Möglichkeit, unseren Bewachern zu entkommen. Wir rannten in Richtung eines Waldgebietes. Die Polizisten verfolgten uns, sie hatten auch Hunde bei sich. Ich sah, wie sich der andere Mann in ein Gebüsch schlug. Aber ich lief immer weiter und hörte die Polizisten hinter mir. Es war sehr dunkel. Nach etwa einer Stunde hatte ich den Eindruck, dass ich nicht mehr verfolgt werden würde, und ging langsamer weiter.
In Griechenland wurde ich wieder eingesperrt
Ich machte kurz Rast und rief mit meinem Mobiltelefon den Schlepper an. Er war sehr irritiert von mir zu hören und sagte, ich müsse in die nächste Stadt gehen und mich dann wieder melden. Am späten Vormittag kam ich in eine kleine Stadt und ging in ein Geschäft. Dort rief ich den Schlepper wieder an, der sich dann mit dem Besitzer des Geschäfts unterhielt. Er gab mir anschließend etwas zu essen und zu trinken und zeigte mir den Weg zum Busbahnhof. Dort angekommen sah ich Polizei am Kartenhäuschen und hatte Angst. Ich wandte mich an einen jungen Mann, der auch wartete, und gab ihm zu verstehen, dass er mir eine Fahrkarte nach Izmir kaufen solle, und gab ihm mein letztes Geld. Im Bus rief ich noch einmal den Schlepper an und gab das Handy dem Busfahrer, der mich dann an einem Hotel aussteigen ließ, in dem der Schlepper wartete.
Wieder begann das Warten. Menschen kamen in das Hotel und nach etwa sechs Tagen wurde uns gesagt, dass es heute Nacht losgehen soll. Wieder wurden wir zur Küste gefahren und in ein Boot gesetzt. Diesmal saß aber einer der beiden Türken am Steuer. Alles klappte gut, doch nach etwa einer Stunde ging der Motor des Bootes kaputt. Wir versuchten, mit den Händen dem Boot eine Richtung zu geben. Das Wasser schwappte immer wieder ins Boot und wir hatten große Mühe zu paddeln. Nach vielen Stunden sahen wir auf einmal Lichter und dann einen Strand. Es war, wie ich später erfuhr, die griechische Insel Lesbos. Als wir auf der Insel ankamen, waren wir sehr entkräftet und völlig durchnässt. Die Gruppe verstreute sich schnell. Auch der Schlepper war plötzlich nicht mehr da.
Foto: heav/photocase
Ich ging mit einem anderen Afghanen in eine kleine Stadt und dort zur Polizei, weil wir nicht mehr weiter wussten. Die Polizisten versorgten uns mit Essen und trockener Kleidung. Sie nahmen unsere Fingerabdrücke ab und machten Fotos von uns. Dann wurden wir eingesperrt. Auf dieser Polizeistation waren wir etwa zwei Tage. Dann kamen die Polizisten zu uns und gaben uns ein Papier. Uns wurde verständlich gemacht, dass wir innerhalb eines Monats Griechenland zu verlassen hätten. Dann ließen sie uns frei. Überall sahen wir Flüchtlinge, die Insel war voll von ihnen.
Wir legten unser letztes Geld zusammen und kauften uns ein Schiffticket, um auf das Festland zu kommen. Dann schlugen wir uns zu Fuß und mit einem LKW nach Athen durch. Dort trafen wir den Bruder meines Freundes. Er lebte schon längere Zeit in Athen und besorgte uns eine Unterkunft. Dort bekamen wir auch zu essen. Wir dachten, dass das alles ein Gefallen sei. Aber nach einiger Zeit präsentierte er uns die Rechnung. Als ich ihm sagte, dass wir kein Geld haben, wurde der Mann sehr wütend. Er schrie, ich solle gefälligst arbeiten und Geld besorgen, sonst erginge es mir schlecht.
Der Besitzer schmiss mich aus der Wohnung
Deshalb ging ich auf einen Platz, auf dem auch viele andere Flüchtlinge auf Arbeit warteten. Manchmal wurde ich mitgenommen, manchmal wartete ich den ganzen Tag für nichts. Schließlich hatte ich das Geld für die Unterkunft zusammen. Da schmiss mich der Besitzer raus. Ich lebte lange auf der Straße oder bei Freunden, die in der gleichen Lage waren. Einmal hatte ich die Gelegenheit, für zehn Tage auf einer Obstplantage zu arbeiten, da verdiente ich 250 Euro auf einen Schlag.
Insgesamt war die Lage sehr schlimm. Ich wurde oft kontrolliert, inhaftiert und wieder entlassen mit der Aufforderung, Griechenland zu verlassen. Insgesamt war ich etwa 13 oder 14 Monate in Griechenland. Dann hatte ich so viel Geld zusammen gespart, dass ich das Land endlich verlassen konnte. Es ging über Mazedonien und Serbien nach Ungarn. Diese Reise dauerte etwa 15 Tage. Kurz nach dem Grenzübertritt in Ungarn wurde ich von der Polizei verhaftet. Das muss Anfang März 2010 gewesen sein. Ich wurde zu einer Polizeistation gebracht und dort in einen fensterlosen, stickigen Raum gesteckt, in dem noch drei andere Menschen waren. Mir wurden wieder die Fingerabdrücke abgenommen und Bilder gemacht.
Nach drei oder vier Tagen hieß es, ich solle einen Asylantrag stellen. Von der Polizeistation brachte man mich in einem Wagen mit Gittern zu einem Gefängnis. Dort kamen ein Mann und eine junge Frau zu mir. Die Frau sprach Farsi und gab mir zu verstehen, dass ich jetzt zu meinen Asylgründen angehört werden würde. Ich sagte ihr, dass ich so gut wie kein Farsi sprechen und nur sehr wenig verstehen würde. Ich könne weder lesen noch schreiben und meine Muttersprache sei Paschtu.
Sie verhörten mich in einer Sprache, die ich kaum verstand
Die Anhörung wurde jedoch fortgesetzt, ohne dass wir uns wirklich verständigen konnten. Nach einiger Zeit gingen die beiden wieder. Ich blieb etwa drei Monate im Gefängnis. Dann bekam ich meine Ablehnung. Ich protestierte und sagte, dass ich nicht nach Afghanistan zurück könne, da man mich dort umbringen würde. Ich blieb für weitere drei Monate im Gefängnis und erhielt dann noch einen Brief, in dem stand, dass sie meinen Asylantrag nun definitiv abgelehnt hätten. Im September 2010 wurde ich plötzlich freigelassen. Man gab mir einen Zettel mit einer Adresse und stellte mich auf die Straße. Ich kam zu einem Lager und die ganze Situation dort war noch viel schlimmer, als im Gefängnis. Überall Dreck und übervolle Zimmer, in denen Menschen auf dreckigen Matratzen auf dem Boden schliefen. Es wimmelte vor Ungeziefer.
Foto: Susann Städter/photocase
Im Lager gab es jedoch eine Sozialarbeiterin, mit der ich mich erstmals über meine Geschichte unterhalten konnte. Sie kannte einen Mann, der auch Paschtu sprach. Ihr erzählte ich alles. Sie schrieb meine Geschichte auf und sagte, sie wolle einen neuen Antrag stellen. Zwölf Tage später bekam ich die Nachricht, dass kein neues Verfahren mehr durchgeführt werden würde. Ich war sehr verzweifelt.
Zusammen mit zwei anderen Männern aus dem Lager machte ich mich wieder auf den Weg und verließ Ungarn. Es ging über Österreich nach Italien und weiter nach Frankreich. In Frankreich wurde ich in einer Stadt von der Polizei kontrolliert und verhaftet. Ich verbrachte eine Nacht auf der Polizeistation und wurde dann wieder in ein Gefängnis gebracht. Den Polizisten gab ich alle Unterlagen, die ich in Ungarn bekommen hatte. Im Gefängnis wurde ich zwei oder drei Mal einem Richter vorgeführt. Schließlich sagte man mir, dass ich in Frankreich keinen Asylantrag stellen könne und dass ich zurück nach Ungarn geschickt werden würde.
Wortlos setzten sie mich in ein Flugzeug
Sie brachten mich mit einem Polizeiauto zum Flughafen und setzten mich ins Flugzeug. Meine Papiere übergaben sie den Flugbegleitern. Als ich in Budapest angekommen war, wartete schon die Polizei an der Gangway und nahm mich mit. Ich wurde in einen Raum gesperrt und bekam weder zu essen noch zu trinken. Die Polizisten sagten, wer kein Geld hat, bekomme auch nichts. Ich wartete bis zum späten Nachmittag. Dann wurde ich aus dem Raum geholt und wortlos zu einem Flugzeug gebracht. Niemand erklärte mir, was eigentlich los ist. Am Abend landete ich wieder i Paris und kam in ein Gefängnis. Dort bekam ich Kontakt zu einer Sozialarbeiterin, die jemanden kannte, der Paschtu sprach. Sie rief ihn an und wir telefonierten miteinander. Sie schrieb etwas für mich und sagte, dass ich bald einem Richter vorgeführt werden würde. Zum Abschluss gab sie mir ihre Telefonnummer.
Kurze Zeit später kam ich zu einem Richter, der mich tatsächlich freiließ. Er sagte aber auch, dass es für mich keine Möglichkeit gebe, in Frankreich einen Asylantrag zu stellen. Sie entließen mich und ich stand wieder auf der Straße. Ich versuchte diese Frau zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. Ich war vier bis fünf Tage obdachlos und die Situation wurde immer auswegloser. Ich musste mich vor der Polizei verstecken und habe in verlassenen Häusern und unter Brücken geschlafen.
Nach fünf Tagen entschloss ich mich, nach Deutschland zu gehen. Kurz nachdem ich die Grenze überquert hatte, wurde ich von der Polizei kontrolliert, verhaftet und in ein Gefängnis gebracht. Dieses Gefängnis ist die Abschiebehaft in Ingelheim, in der ich jetzt bin."
Grundlage für dieses Protokoll waren zwei Gespräche zwischen Herrn Naseri und einem Mitarbeiter des Diakonischen Werks Mainz-Bingen im November 2010 in der so genannten Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige in Ingelheim in Rheinland-Pfalz.
Nachtrag:
Sejed Shah Naseri wurde an Nikolaus 2010 an einem kalten Tag aus der Haft in Ingelheim entlassen, um sich zur Asylbearbeitung in die Erstaufnahmeeinrichtung des Saarlandes zu begeben. Inzwischen ist er in einem Flüchtlingsheim in einer Stadt in Baden-Württemberg. Seine Chancen eine Abschiebung nach Ungarn zu verhindern stehen schlecht. Grundlage dieser Abschiebung wäre die Dublin-II-Verordnung.
Anja Hübner ist Mitarbeiterin bei evangelisch.de und freie Journalistin in Mainz und Frankfurt am Main.