"Der verlorene Sohn", 23. Februar, 20.15 Uhr im Ersten
Der Titel macht deutlich, aus welcher Perspektive die Handlung erzählt wird: Verloren gehen kann ein Sohn naturgemäß nur aus Sicht der Eltern; er selbst hat ja keinen Grund, an seinem Weg zu zweifeln. Insofern ist es vermutlich konsequent, wenn gewisse Leerstellen bleiben; aber störend sind die dennoch.
Unter Verzicht auf jede Vorgeschichte beginnt der Film mit der Rückkehr des jungen Mannes: Rainer Schröder (Kostja Ullmann) hat wegen Terrorismusverdachts ein Jahr in israelischer Haft verbracht; nun ist er nach Deutschland abgeschoben worden. In Empfang nimmt ihn jedoch nicht seine Mutter Stefanie, sondern das Landeskriminalamt: Weil er angeblich in einem palästinensischen Ausbildungslager war, steht er unter Beobachtung. Stefanie (Katja Flint) ist das alles erst mal egal, sie freut sich, ihr Kind in die Arme schließen zu können. Doch Rainer, der zum Islam konvertiert ist, sich nun Omar nennt und die Freundin seines Bruders als Nutte bezeichnet, bleibt ihr fremd; und das ist die Geschichte des Films.
Komplexe Mutter-Sohn-Beziehung
Der erfahrene Fred Breinersdorfer, Autor Dutzender von Justiz-Thrillern, und seine Tochter Léonie-Claire legen den Schwerpunkt des Drehbuches auf die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Natürlich liebt sie ihn, natürlich kämpft sie für ihn, aber weil Rainer stets auf emotionalen Abstand achtet, bleibt auch der Zweifel: Hat er bloß extreme Ansichten? Oder ist er ein islamistischer Fanatiker, der den Worten auch Taten folgen lassen würde? Aus dieser Frage speist sich die Spannung, zumal es Regisseurin Nina Grosse versteht, sie gerade auch mit Hilfe der beiden Hauptdarsteller in der Schwebe zu halten.
Kostja Ullmann, mit seinen sanften Gesichtszügen ohnehin ein Sympathieträger, versieht den jungen Mann mit genau der richtigen Dosis Gereiztheit, so dass man gemeinsam mit Stefanie einfach nicht weiß, was man von Rainer/Omar halten soll. Katja Flint ist eine nicht minder gute Besetzung für die patente Mutter, die innerhalb kurzer Zeit mit der Verhaftung Rainers sowie dem Tod ihres Mannes gleich zwei Schicksalsschläge verkraften muss und dennoch mit großer Hingabe um ihren Sohn kämpft. Sie erreicht vor Gericht, dass das LKA die Observierung Rainers einstellen muss. Als sie in Rainers Koran einen Hinweis auf die Bekenner-Videos der Londoner U-Bahn-Attentäter findet, schwant ihr, dass sie womöglich einen Fehler mit tödlichen Folgen begangen hat.
Gerade die Komplexität der Charaktere lässt jedoch die Lücke in Rainers Lebenslauf um so größer erscheinen: Es bleibt völlig offen, warum der junge Mann aus offenbar liebevollem Elternhaus irgendwann in den "Dschihad" abgedriftet ist. Ähnlich wie Niki Steins Scientology-Drama "Bis nichts mehr bleibt" soll wohl auch "Der verlorene Sohn" zeigen, dass es keine vorgezeichneten Wege gibt: weder in die Sekte noch in den Islamismus; es kann jeden treffen. Andererseits erleichtert der Verzicht auf eine Erklärung natürlich die Identifikation mit Stefanie, auf die der eigene Sohn wie ein Alien wirkt. Das wiederum ist Voraussetzung für das erschütternde Ende.
Neben den nicht minder gut geführten Nebendarstellern (allen voran Werner Wölbern als LKA-Mann) beeindruckt vor allem die sparsam instrumentalisierte Musik vom Duo Dürbeck & Dohmen, die ganz erheblich zur Atmosphäre des Films beiträgt.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).