Wissenschaftler: "taktische Spiele" auf Kosten der Armen

Wissenschaftler: "taktische Spiele" auf Kosten der Armen
In Berlin verhandeln Regierung und Opposition am Dienstagabend weiter darüber, wieviel Geld Langzeitarbeitslose demnächst bekommen sollen. Der Sozialwissenschftler Stefan Sell meint, dass beide Seiten in einer vertrackten Lage seien.
07.02.2011
Von Frank Leth

Mit dem Feilschen um die Hartz-IV-Reform haben sich Bundesregierung und Opposition nach Auffassung des Sozialwissenschaftlers Stefan Sell in eine vertrackte und kaum noch lösbare Lage gebracht. "Man spekuliert auf das Scheitern der notwendigen Gesetzesreform und will nicht das eigene Gesicht verlieren", kommentierte der Koblenzer Professor die zähen Hartz-IV-Verhandlungen.

"Die Verhandlungspartner in Berlin wissen, dass die Bundesregierung für die Reform die Zustimmung von SPD und Grüne braucht", sagt Sell. Die Opposition wolle diese Schwäche der Regierung ausnutzen und fordere daher mehr, als vom Bundesverfassungsgericht verlangt wurde. So sollen nach dem Willen von SPD und Grüne Leiharbeiter nach rund vier Wochen ebenso bezahlt werden wie die Stammbelegschaft eines Unternehmens. "Diese Forderung hat mit der Umsetzung des Urteils aber nichts zu tun", sagt Sell.

Am 9. Februar, vor genau einem Jahr, hatten die Karlsruher Richter die Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Bis Ende 2010 müsse der Gesetzgeber eine Neuregelung schaffen, urteilten sie.

Bleibt die Einigung aus, könnten Hartz-IV-Bezieher klagen

Seitdem hoffen Langzeitarbeitslose auf mehr Geld. "Auch für die Opposition ist das eine schwierige Situation", sagt Sell. Denn stimme sie einer geringen Regelsatzerhöhung zu, könne dies SPD und Grüne bei den folgenden Wahlen angekreidet werden. "Die Bundesregierung kann es sich dagegen nicht leisten, den Regelsatz deutlich zu erhöhen", sagt Sell. Denn dann würden noch mehr Geringverdiener als heute Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen haben. Das würde für den Bund teuer werden.

Kommen Regierung und Opposition nicht zu einer Einigung, rät Sell Hartz-IV-Beziehern, vor Gericht zu klagen. Denn schließlich habe das Bundesverfassungsgericht festgelegt, dass ab Anfang 2011 ein neues Gesetz in Kraft treten müsse.

An diesem Dienstagabend wollen Regierung und Opposition einen neuen Versuch unternehmen, bei den Hartz-IV-Verhandlungen noch rechtzeitig eine Einigung zu erzielen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, es werde an dem Ziel festgehalten, die Reform noch in dieser Woche durch Bundestag und Bundesrat zu bringen. Merkel habe ein "sehr intensives Interesse" an dem Thema und begleite die Entwicklungen "sehr interessiert und informiert."

Finanzierung des Bildungspakets ist auch noch strittig

In den gut neunstündigen Verhandlungen in der Nacht zum Montag war trotz eines Angebots der Regierung die Finanzierung des Bildungspakets strittig geblieben, auf dessen Umsetzung sich Regierung und Opposition bereits verständigt haben. Beim Hartz-IV-Regelsatz und der Bezahlung von Leiharbeitern kam die Bund-Länder-Arbeitsgruppe kaum voran.

Die Hartz-IV-Reform war kurz vor Weihnachten am Widerstand der SPD-regierten Länder im Bundesrat vorläufig gescheitert. Seitdem bemüht sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe um eine Einigung. Anlass für die Reform war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Bundesregierung will den Regelsatz um fünf Euro auf 364 Euro erhöhen. Das ist der Opposition zu wenig. Einig ist man sich, dass bedürftige Kinder Zuschüsse zu Vereinsbeiträgen, Schulessen und Nachhilfe erhalten sollen. Die Opposition fordert außerdem Mindestlöhne in der Zeitarbeit und weiteren Branchen.

epd