Da sind auf der einen Seite diejenigen, die an der strikten Verbindlichkeit der "Schrift" festhalten, und auf der anderen Seite diejenigen, die auf kultur- und wissensgeschichtliche Differenzen zwischen biblischen und gegenwärtigen Lebenswelten verweisen. Gerade die Debatten um Homosexualität und Kirche zeigen beide Positionen in unüberbrückbarem Gegensatz.
Die Erklärung, das stehe nun einmal in der Bibel, überzeugt die einen nicht, und die Bekundung, man müsse das heute anders beurteilen, die anderen nicht. Ich möchte die Position derer, für die die "Schrift" verbindliche Lebensnorm ist, ganz ernst nehmen, ja ich teile sie. Dass ich dennoch und gerade darum jede Diskriminierung nicht nur der Veranlagung, sondern auch der gelebten Sexualität von Homosexuellen ablehne, will ich begründen.
Die Bibel kennt keine homosexuellen Partnerschaften
Die Gründe liegen auf mehreren Ebenen. Die eine hat mit meiner historisch-exegetischen Sicht als Bibelwissenschaftler zu tun. Weder im Alten noch im Neuen Testament ist in den negativen Aussagen über homosexuelle Praktiken eine auf Dauer angelegte Liebesbeziehung zwischen Menschen gleichen Geschlechts im Blick. Die beiden Stellen im 3. Mosebuch (18,22; 20,13), die es als Gräuel bezeichnen, wenn ein Mann bei einem Mann wie bei einer Frau liegt, haben keine homosexuelle Partnerschaft vor Augen, sondern einen bestimmten Sexualakt, der als für Männer entwürdigend gilt. Vollends die schlimme Geschichte in 1Mose 19 muss bei dieser Frage außer Acht bleiben. Denn hier geht es um Vergewaltigung von Männern. Wäre das ein Argument gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften, so wären biblische Erzählungen von der Vergewaltigung einer Frau ein Argument gegen heterosexuelle Beziehungen. Wer Homosexualität auf eine Ebene mit Vergewaltigung und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche stellt, verharmlost die Gewalt und kann sie darum sogar befördern.
Paulus verurteilt (Römer 1,26f.) den Geschlechtsverkehr von Frauen und Frauen, Männern und Männern als "gegen die Natur". An anderer Stelle (1Korinther 11,14) bietet Paulus das gleiche Argument gegen Männer auf, die das Haar lang wachsen lassen. Um "Natur" geht es da gewiss nicht. Haare wachsen bei Männern nicht weniger als bei Frauen und die Haartracht ist eine Frage von Kultur und Mode. Warum sollte der fragwürdige Naturbegriff des Paulus in der Homosexualitätsdebatte zum Urteilsgrund werden? Ich vermute, dass es letztlich nicht diese und ähnliche Bibelstellen sind, die das Urteil begründen, sondern dass sie ein ohnehin feststehendes Urteil unterfüttern. Biblische Worte und Texte werden dann zur Norm, wenn sie das bestätigen, was man aus anderen und teilweise durchaus honorigen Gründen selbst meint. Tun sie das nicht, werden sie als Zeugnisse einer vergangenen Lebenswelt abgebucht.
Auch ein nicht ganz durchgebratenes Steak gilt in der Bibel als Gräuel
Damit bin ich bei einer zweiten Ebene. Warum nimmt wer, wie und wogegen welche Worte der "Schrift" in Anspruch und warum andere nicht? Einige Beispiele: In der Bibel erscheint ungeborenes Leben nicht als Leben – man lese dazu 2Mose 21,22-25. Niemand in der Kirche wird das als heute zureichende biblische Norm in der Abtreibungsfrage ansehen. Es gibt eine Fülle biblischer Gesetze, deren Einhaltung in einer evangelischen Kirche auch von Biblizisten nicht eingeklagt wird. Ich denke an die Reinheitsvorschriften etwa im 3. Mosebuch. Was beispielsweise darf man essen und was man nicht? Dieses Thema nimmt in der "Schrift" sehr viel mehr Raum ein als die Bemerkungen über homosexuelle Praktik. Mit derselben Begründung, es sei Gott ein Gräuel, wird dort vieles ins Unrecht gesetzt, was heute niemand einer Pfarrerin oder einem Pfarrer verübelte. Wären die entsprechenden Priestergesetze für sie verbindlich, dürften sie weder sich den Bart stutzen, noch Schweinefleisch essen, noch an Beerdigungen teilnehmen und körperbehindert dürften sie auch nicht sein. Denn all das ist ebenso ein Gräuel, wie wenn ein Mann bei einem Mann wie bei einer Frau liegt. Warum soll das eine gelten und das andere nicht?
Nun wird erklärt, nur diejenigen Bestimmungen des Alten Testaments, die auch im Neuen Testament in Geltung bleiben, seien für Christenmenschen verbindlich. Aber wie steht es dann mit dem "Blutgenuss", der in Apostelgeschichte 15,20 mit höchster Autorität, nämlich von den Repräsentanten der Jerusalemer Gemeinde, unter ihnen Petrus und Jakobus, und von Paulus gemeinsam formuliert, allen untersagt bleibt, die Jesus als den Messias anerkennen? Warum sagen die Altbischöfe nicht mit eben derselben Klarheit, Menschen, die ein nicht durchgebratenes Steak oder gar Blutwurst essen, dürfe es im Pfarrhaus ebenso wenig geben wie homosexuell Lebende? Und ist es nicht eigentümlich, dass ausgerechnet Paulus für die Begründung der Ehe in Anspruch genommen wird? Er hält es für besser, enthaltsam zu leben und sieht in der Ehe eine immerhin brauchbare Kanalisation der Sexualität (1Korinther 7,1f.). Immer noch besser die Ehe als ins Bordell zu gehen! Soll das so heute in der Kirche gelten?
Bis zur Widersprüchlichkeit reichende Vielfalt
Aber nun eine dritte Ebene: Es wäre unredlich, wenn ich diese Fragen nur an die richtete, die beim Homosexualitätsthema anders denken als ich. Denn ich muss mich selbst fragen, warum ich wann und wogegen biblische Worte und Texte in Anschlag bringe und wo nicht. Mir wäre es ja auch nicht Recht, wenn etwa ein Neoliberaler gegen die mir wichtigen biblischen Normen sozialer Gerechtigkeit einwendete, das seien ja ganz andere Zeiten gewesen und man könne die Bibel nicht für gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialfragen in Anspruch nehmen. Warum erachte ich biblische Worte im Bereich der Sexualethik nicht als Norm für die Gegenwart und solche, die von den Armen und den Fremden handeln, sehr wohl? Ohne diese kritische Rückfrage an mich selbst blieben meine bald argumentativen, bald spöttischen Bemerkungen über diejenigen, die in der Homosexualitätsfrage biblisch und biblizistisch argumentieren, schal. Und wie gehe ich mit diesen Rückfragen an mich selbst um?
Spätestens an dieser Stelle geht es um die Frage, was es eigentlich heißt, die "Schrift" als letztgültige Norm zu verstehen. Die Bibel ist uns als Kanon biblischer Schriften vermittelt. Und in diesem Kanon gibt es Spannungen und Widersprüche. In vielen Fragen gibt es mehr als eine Antwort und manche dieser Antworten widersprechen einander. Und das ist nicht so, weil die Alten diese Widersprüche nicht bemerkt hätten – sie waren nicht dümmer als wir! –, sondern weil sie diese bis zur Widersprüchlichkeit reichende Vielfalt gewollt haben. Sie führt dazu, dass ich einem biblischen Wort zuweilen nur folgen kann, wenn ich einem anderen biblischen Wort widerspreche. Warum werden Frauen zu Pfarrerinnen ordiniert, wo es doch in 1Korinther 14,34 heißt, sie sollten in der Gemeinde schweigen? Weil dagegen die Schöpfungsgeschichte steht, in der der Mensch, männlich und weiblich, Bild Gottes ist! Warum ist es auch biblisch theologisch erlaubt, einzelne Sätze der Bibel über die Homosexualität heute nicht gelten zu lassen? Weil dagegen im Alten und im Neuen Testament das Gebot der Nächstenliebe und der Fremdenliebe steht, das es ausschließt, meine Mitmenschen und auch die, deren Lebensweise mir fremd ist, zu diskriminieren!
Unteilbare Menschenrechte, auch wo sie kirchlichen Traditionen entgegenlaufen
Mit der Bibel ins Gespräch zu kommen heißt darum auch, das innerbiblische Gespräch und seine verbindliche Vielfalt wahrzunehmen. Wenn Texte gegen Texte stehen, dann muss man diskutieren und alle sollen zu Wort kommen und letztlich muss man mehrheitlich entscheiden, was gelten soll. In Evangelischen Synoden ist es da nicht anders als in der Demokratie. Was die Wahrheit ist, lässt sich mit keiner Mehrheit entscheiden, wohl aber, was – wenigstens für eine Weile – gelten soll. Ich hoffe für die anstehenden Entscheidungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sehr, dass sie in der Frage der Homosexualität die unteilbaren Menschenrechte auch da behaupten, wo sie kirchlichen Traditionen entgegenlaufen.
"Die Erkenntnisse über die Entstehungsbedingungen der Homosexualität in ihren sehr verschiedenen Arten schließen es jedenfalls aus, die Aussage des Paulus heute noch in dem Sinne zu übernehmen, daß Homosexualität ein sittlich verwerfbares Vergehen sei." Dieser Satz steht in einem Kommentar zum Römerbrief (EKK VI/1, 1978, 110f.) und sein Verfasser ist derselbe Ulrich Wilckens, der zu den Autoren jenes Briefes der Altbischöfe gehört. Der Neutestamentler Wilckens ist nicht gezwungen, frühere Einsichten beizubehalten, aber er muss sich dann auch fragen lassen, ob es biblisch theologische Gründe sind, die ihn zu einer Sinnesänderung bewegt haben. Christinnen und Christen steht es gut an, sich und andere daran zu erinnern, dass die Menschenrechte in der Geschichte weithin gegen die Kirchen erkämpft wurden. Gott sei Dank!
Prof. Dr. Jürgen Ebach, bis 2010 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments und biblische Hermeneutik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.