Machtwechsel in Tunesien, Menschenmassen und Tote auf den Straßen Kairos - in Brüssel hat es keiner kommen sehen. Die EU hat zwar eine "Außenministerin" und baut mit großem Aufwand einen gemeinsamen diplomatischen Dienst auf. Doch auf die Ereignisse am Mittelmeer reagiert die Gemeinschaft nach dem Eindruck von Beteiligten eher hilflos.
EU schließt völligen Regimewechsel nicht aus
Es gehört zu den Vorteilen der EU, dass sie ihre Versäumnisse offen ausspricht: "Natürlich sind alle überrascht worden, dass es in diesem Tempo in Ägypten zu diesen Veränderungen kommt", resümierte der österreichische Außenminister Michael Spindelegger am Rande von hektischen Beratungen in Brüssel.
Der Wiener Ressortchef plädiert dafür, die Nachbarschaftspolitik der EU zu verändern. Diese habe offenbar nicht so funktioniert, "dass wir rechtzeitig diese Entwicklungen absehen". Noch vor zweieinhalb Jahren wurde mit großen Pomp in Paris die sogenannte Mittelmeerunion der EU aus der Taufe gehoben, mit Ägyptens Präsident Husni Mubarak als privilegiertem Partner. Antworten, was aus der Mittelmeerunion werden soll, fehlen bisher.
In dem Land am Nil wird nichts wieder wie früher sein. Die EU fordert deshalb den geordneten Übergang zu mehr Demokratie und einen politischen Dialog mit der Opposition. Es wird im Kreis der Außenminister nicht mehr ausgeschlossen, dass es einen völligen Regimewechsel geben könnte - das wird aber nicht öffentlich ausgesprochen.
Bei den Außenamtschefs herrschte erhebliche Sorge darüber, dass die Lage aus dem Ruder laufen könnte. Der deutsche Ressortchef Guido Westerwelle meinte am Montag, es sei wichtig, "dass ein Prozess der Radikalisierung verhindert wird. Wir wollen nicht, dass radikale Trittbrettfahrer die Profiteure einer solchen freiheitlichen Demonstration werden können." Auch sein britischer Amtskollege William Hague warnte: "Wir wollen sicherlich nicht, dass Ägypten in die Hand von Extremisten fällt."
"Die EU schwieg, bis Ben Ali aus Tunis flüchtete"
Eine angesehene Brüsseler Denkfabrik, das European Policy Centre (EPC), nimmt das Stabilitätsdenken der Europäer ins Visier. Die EU habe das Status Quo im südlichen Mittelmeerraum lange unterstützt, "in dem Glauben, dass der Status Quo Stabilität bedeutet", schreibt EPC-Autorin Rosa Balfour in einer Analyse. Sie bemängelt auch das Auftreten der EU bei der politischen Wende in Tunesien: "Die EU schwieg, bis (der damalige Präsident Zine el Abidine) Ben Ali aus Tunis flüchtete."
Der Vorwurf des Schweigens wird nicht nur in der Denkfabrik geäußert. Auch in manchen Hauptstädten wundert man sich, dass Brüssel mit seinem großen Apparat nicht so richtig in die Hufe kommt. Im Zentrum der Kritik steht die seit gut einem Jahr amtierende Catherine Ashton - die Außenbeauftragte der Union.
Mit Blick auf die Erklärung Großbritanniens, Frankreich und Deutschland zur ÄgyptenKrise vom Wochenende meinte der Wiener Minister Spindelegger: "Wenn es ein gewisses Vakuum gibt, dann muss man sich nicht wundern, wenn andere beginnen, tätig zu werden."
Brüssel ist auch deshalb mehr oder weniger offen formulierten Vorwürfen ausgesetzt, weil es bisher offensichtlich nicht gelang, ein gemeinsames europäisches Krisenmanagement zum Schutz und zur Hilfe für Europäer im Land der Pyramiden auf die Beine zu stellen. "Jeder EU-Partner arbeitet für sich alleine", lautet das dürftige Fazit von Diplomaten nach einer Woche Krise.