Integration: Muslime in einer evangelischen Schule

Integration: Muslime in einer evangelischen Schule
In der Evangelischen Gesamtschule in Gelsenkirchen-Bismarck haben rund ein Drittel der Schüler einen Migrationshintergrund. 20 bis 25 Prozent eines Jahrgangs sind Muslime. Mit Konflikten gehen Schüler und Lehrer kreativ um - sie üben Mathe, Deutsch und Reli, und auch das Zusammenleben.
26.01.2011
Von Anne Kampf

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Weinend sitzen Eltern und Kinder im Büro von Schulleiter Harald Lehmann. Er hat sie abgewiesen. Es tut ihm Leid, er würde am liebsten mitweinen. Furchtbar - die Woche am Jahresanfang, in der Harald Lehmann zusammen mit anderen Mitgliedern der Schulleitung in endlosen Konferenzen Listen durchgehen und zehnjährige Kinder auswählen muss. Annehmen oder ablehnen. Lange Diskussionen. Die Alternative wäre, zu würfeln - doch das wollen sie nicht. Nach dieser Woche ist Harald Lehmann fix und fertig.

Jedes Jahr kommen rund 370 Familien mit Bangen zu den Anmeldegesprächen an die Evangelische Gesamtschule. Nur 150 können aufgenommen werden. Harald Lehmann und seine Kollegen mischen jeden Jahrgang bewusst durch: je zur Hälfte Mädchen und Jungen, einen Anteil mit Gymnasialempfehlung, ein paar Akademikerkinder, einige mit Hauptschulempfehlung. Besonders wichtig: Ein Drittel jedes Jahrgangs soll einen Migrationshintergrund haben.

Klassen wohnen in Reihenhäusern mit Garten

Wenn die neuen Fünftklässler im Spätsommer kommen, ist das mehr als ein Schuljahresbeginn: Es ist ein Einzug. Denn die Klassen wohnen in ihren eigenen Häusern: Wie eine kleine Reihenhaussiedlung sind die Klassenräume nebeneinander angeordnet (Foto links). Jedes hat einen eigenen kleinen Garten und ein Obergeschoss als zusätzlichen Arbeitsraum. Im Flur stehen Schuhe in einer Reihe, drinnen tragen die Schüler Pantoffeln.

Sie verbringen die Pausen hier ohne Aufsicht. Das geht deswegen gut, weil die Klasse sich mit ihrem "Haus" identifiziert: Kaum etwas geht zu Bruch, selbst die Toiletten sehen vorzeigbar aus. Die Lehrer kommen zu Besuch in die Schüler-Häuser, und selbst der Schulleiter klopft an und fragt höflich, ob er hereinkommen darf. "Schule muss kompensatorisch wirken," sagt Harald Lehmann und meint damit, dass sie Sprach- und Erziehungsdefizite der Elternhäuser ausgleichen muss. Voraussetzung dafür ist, dass die Schüler sich hier wie zuhause fühlen: "Die Schule ist ihr Lebensraum".

Der Schulleiter läuft von Häuschen zu Häuschen und lernt. Das tut er seit mehr als acht Jahren: Er lernt, wie man türkische Kinder dazu bringt, deutsch zu sprechen. Wie man türkische Mädchen davon überzeugt, kein Kopftuch zu tragen. Und er versucht noch zu lernen, wie man Kindern aus armen Familien ein preiswertes Mittagessen in der Mensa schmackhaft machen kann.

Mensa-Essen: Fünf Gänge für 50 Cent

Zurzeit besuchen 1180 Schüler die Gesamtschule, 80 Prozent von ihnen kommen aus dem Stadtbezirk Gelsenkirchen-Mitte. Die Evangelische Kirche von Westfalen hat diesen Standort bewusst ausgesucht: Typisches Ruhrgebiets-Milieu mit Arbeiterfamilien und Einwanderern vor allem aus der Türkei. Ihre Familien haben sich seit Generationen an das Leben in Gelsenkirchen gewöhnt, leben in manchen Stadtvierteln weitgehend unter sich.

Viele hier beziehen Hartz IV oder haben wenig Einkommen. "Stadtteile mit Erneuerungsbedarf" heißen die Wohnblocksiedlungen im Behördendeutsch - "soziale Brennpunkte" trifft es besser. Harald Lehmann will diese Kinder in seiner Schule haben: Kinder, die morgens zu spät kommen, weil die Eltern nicht aufgestanden sind. Kinder, die ohne Frühstück kommen.

Harald Lehmann will, dass sie sich satt essen. Zumindest mittags in der Mensa. Dank der Subventionen von Land, Stadt und Schule könnten die Kinder von Hartz-IV-Empfängern für 50 Cent nicht nur ein Tagesmenu essen, sondern dazu noch Nudeln, Salat und Wok-Gericht probieren - wenn ihre Eltern einen Zuschuss beantragen würden. Doch viele Familien tun das nicht. "Es ist nicht in erster Linie ein Geld-Problem", hat Harald Lehmann erkannt, "sondern ein Kümmer-Problem." Manche Eltern seien einfach nicht in der Lage, das Leben der Familie zu organisieren.

Beispiel Amela: "Die Eltern sind stolz auf mich"

Harald Lehmann will, dass alle Schüler einen Abschluss machen, unabhängig von den Voraussetzungen des Elternhauses. Vor zehn Jahren haben 32 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund die Gelsenkirchener Schulen ohne Abschluss verlassen, demgegenüber bringt die EGG mittlerweile so gut wie alle durch - mindestens mit einem Hauptschulabschluss.

Im Abiturjahrgang 2010 waren die beiden Jahrgangsbesten Schüler mit Migrationshintergrund - ihre Durchschnittsnoten: 1,3 und 1,4. Wie geht das? Vor allem durch das Signal der Lehrerschaft an jeden einzelnen Schüler: Du bist willkommen in dieser Schule. Wir glauben, dass du klug bist, wir geben Dir eine Chance.

"Jeder Lehrer hat zum Ziel, dass die Schüler ihr Potential ausschöpfen", erklärt Harald Lehmann. Amela Ibra (16, auf dem Foto links mit Didem Topcu, 15) ist ein gutes Beispiel: Sie kam mit einer Hauptschulempfehlung in die fünfte Klasse, hatte sich selbst schon als Zehnjährige gewünscht, auf diese Schule zu gehen. Nun ist Amela in der Zehn und auf dem besten Wege zum Abitur. Niemand in ihrer Familie hat bisher die Allgemeine Hochschulreife.

Sie stammen aus dem Kosovo, der Vater ist Maurer, die Mutter Hausfrau. Amela ist das älteste von drei Kindern. Sie geht am liebsten in den Mathe- und Französischunterricht, paukt die Fremdsprache sogar in einem Extrakurs in der Mittagspause, möchte nach dem Abi studieren. "Ich denke, meine Eltern sind stolz auf mich," sagt Amela. Sie nehmen die Chance für ihre Tochter bewusst wahr, denn sie wissen, dass im Kosovo die Möglichkeiten für Mädchen ungünstig sind.

Nur auf Deutsch können alle einander verstehen

Die Evangelische Gesamtschule in Gelsenkirchen-Bismarck hat sich zu einer Vorzeige-Schule entwickelt: Beliebt bei Eltern, erfolgreich in der Integration von ausländischen Schülern. Trotzdem gibt es Probleme, um deren Lösung Schüler, Lehrer, Eltern und Schulleiter ringen. Vieles kann miteinander ausgehalten und ausprobiert werden, manche Konflikte müssen die Schüler allerdings aushalten.

Eine Frage war: Wie bringt man die vielen türkischen Schüler am besten dazu, deutsch zu sprechen? Ursprünglich gab es neben Türkisch als Hauptfach auch muttersprachlichen Ergänzungsunterricht für die türkischen Schüler, dazu Deutsch als Zweitsprache und Islam-Unterricht. Dann fiel dem Schulleiter auf: "Die einzige Gruppe in der Schule, die sich immer wieder traf, waren die Türken."

Das war das Gegenteil von Integration - das war eine Sonderbehandlung für eine bestimmte Gruppe. Mit der Auswirkung, dass die türkischen Schüler unter sich Türkisch sprachen und von anderen nicht verstanden wurden. Nachdem eine Lehrerin im Unterricht auf türkisch derbe beleidigt worden war, schwenkte die Schule um: Alle Kinder lernen jetzt verstärkt Deutsch, in der fünften Klasse sogar mit zwei Lehrern gleichzeitig. Die Botschaft lautet: In dieser Schule sollen alle einander verstehen können, also reden wir Deutsch miteinander. "Das gebietet auch die Höflichkeit", sagt der Schulleiter.

Der Effekt: Die Sprachkompetenz der Schüler steigt, und das macht sich bis in die Oberstufe bemerkbar. Früher haben es wenige türkische Kinder bis zum Abitur geschafft, denn je schwieriger der Stoff, desto höher die Anforderung an die Sprache: Auch komplizierte Textaufgaben in Mathe versteht nur derjenige, der das deutsche Lehrbuch nicht erst mühsam übersetzen muss. Deutsch statt Türkisch war ein Schlüssel zum Erfolg.

Schwere Entscheidung: Kopftuch - Ja oder Nein?

Nicht, dass das Umschwenken einfach gewesen wäre. Denn auch diese Frage musste die Schule sich stellen: Nimmt man den türkischen Schülern nicht einen Teil ihrer kulturellen Identität, wenn man sie bittet ihre Muttersprache nicht in der Schule anzuwenden? Noch sensibler ist die Diskussion um das Kopftuch. Harald Lehmann (Foto links) denkt oft darüber nach. Natürlich darf er es nicht ablehnen - will er auch nicht. Doch die Frage steht im Raum: Ist das Kopftuch wirklich nur ein religiöses Symbol? Wenn es ausdrückt, dass eine anständige Frau ihr Haupt verhüllt - welche Botschaft transportiert das Kopftuch dann über alle anderen Frauen? Darf - oder sollte - die Schulgemeinschaft diese Fragen nicht stellen?

An der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen ist es nicht verboten, mit Kopftuch zum Unterricht zu erscheinen. Aber die Schulleitung legt den Eltern im Anmeldegespräch nahe, darüber nachzudenken, ob ihre Töchter nicht zumindest bis zum 14. Lebensjahr darauf verzichten und dann selbst entscheiden sollten. Die meisten Eltern willigen ein, um ihrem Kind keine Chance zu verbauen. Zurzeit kommt nur eine einzige Schülerin mit Kopftuch zur Schule. Schade ist andererseits, dass eine besonders religiöse islamische Familie aus diesem Grund ihre Tochter, die einen Platz an der Schule sicher hatte, wieder abgemeldet hat.

Der Fall macht deutlich: Integration ist nicht einfach. Manche Konflikte müssen einfach ausgehalten werden - besonders von den Jugendlichen selbst. Das merkt Lehrerin Gülizar Deveci im Islamkundeunterricht. Wenn die Schüler Fragen stellen dürfen, tritt immer wieder - auch anhand der Kopftuchfrage - ein Zwiespalt zutage: Auf der einen Seite die Möglichkeiten der Gesellschaft, in der die Schüler leben - auf der anderen Seite das Traditionsbewusstsein ihrer Familien, das ihnen auch etwas wert ist. Was ist richtig? Ist man nur mit Kopftuch eine gute Muslima?

Abstimmung: Kommen Christen in die Hölle?

Einmal trafen sich muslimische und christliche Schüler zu einer besonderen Religionsstunde, um zu einem konkreten Problem Fragen auszutauschen. Diese Stunde war eine, in der vor allem der evangelische Religionslehrer Lehrer etwas gelernt hat. Es war Schulleiter Harald Lehmann. Seine Lektion lief ab wie eine Quizshow mit Abstimmung. "Wer von den muslimischen Schülern glaubt, dass Christen in die Hölle kommen?" 15 muslimische Schüler waren anwesend. 14 hoben die Hand. Ein "Riesenschreck" für Lehmann.

Seitdem gibt es als Modellversuch gemeinsamen Religionsunterricht für christliche und muslimische Schüler in der neunten und zehnten Klasse. Die Christen lernen etwas über den Islam, die Muslime erfahren etwas über das Christentum. So weiß Didem Topcu (15) jetzt, warum Weihnachten und Ostern gefeiert wird - und sie wüsste gern noch mehr darüber, was in der Bibel steht. Ganz nebenbei schärft es ihr Bewusstsein für die eigene Religion, wenn sie Christen den Islam erklären soll. Sich selbst und andere verstehen gehört in diesem besonderen Unterricht zusammen. Das ist Integration.


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.