Die vergessene Generation: Kinder, die der Shoah entkamen

Abfahrt eines Deportationszuges vom Hauptbahnhof Bielefeld. Foto vom 13. Dezember 1941.
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Abfahrt eines Deportationszuges vom Hauptbahnhof Bielefeld am 13. Dezember 1941.
Die vergessene Generation: Kinder, die der Shoah entkamen
Für viele ist der Holocaust nur Geschichte und der Gedenktag suggeriert, dass wir an etwas Vergangenes erinnern. Doch nicht wenige der etwa eine Million Überlebenden sind traumatisiert. Auf einer Konferenz der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sprachen Psychologen, Sozialarbeiter und Wissenschaftler aus Europa und Israel vier Tage über die Spätfolgen in der Generation der "Child Survivors".

Gerade noch hatte David Pelcovitz von zwei Rabbis auf dem Weg zu ihrer Exekution erzählt. Eine Parabel, die verdeutlichen sollte, dass vieles eine Frage der Einstellung sein kann. Der eine Rabbi sagt zum anderen: "Ich kann das einfach nicht verstehen, dass sie uns hinrichten wie Kriminelle." Der andere antwortet seinem aufgeregten Glaubensbruder: "Eines Tages wirst du dankbar für das gute Wetter sein." Pelcovitz sagt, unsere Gedanken entscheiden darüber, wie wir mit einer Situation fertig werden, wie wir Geschehenes verarbeiten.

Dann hatte sich eine kleine weißhaarige Frau erhoben, die auf jiddisch dem Publikum ihre Geschichte vortrug; wie sie als kleines Kind arbeiten musste, von der Mutter getrennt, mit kurz geschorenen Haaren. Sie kam aus Auschwitz heraus, während sie andere auf ihrem letzten Weg ins Krematorium sah. Tag und Nacht hätten dort die Schornsteine geraucht, sagt sie. Im großen Konferenzsaal der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main steht sie auf weichem Teppichboden, zittert, das Mikrofon wirbelt in ihrer Hand durch die Luft, um Worten Nachdruck zu verleihen, die keines Nachdrucks bedürfen.

David Pelcovitz ist Traumatologe, Mediziner und Psychologe aus den USA. Er ist Referent auf der Konferenz der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die sich in diesem Jahr den "Child Survivors" widmet. Child Survivor, das sind diejenigen, die den Holocaust als Kinder miterlebt haben. Sie sind die Überlebenden der Konzentrationslager, Überlebende des systematisch geplanten Massenmords, geflüchtet vor der deutschen Besatzung; sie sind den Verfolgern entkommen. Und müssten sie nicht heute darüber glücklich sein?

Als Kinder entwurzelt, alleingelassen, geflohen, deportiert

"Viele der Child Survivor haben starke Probleme, die mit ihrer Identität zu tun haben", sagt Noemi Staszewski. Sie leitet den Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihrer Familien in Frankfurt am Main. "Die meisten der jüngeren Überlebenden können sich weder an die reellen Erlebnisse erinnern, die sie hatten, weil sie zu jung waren, noch haben sie Informationen über ihre Herkunft."

Viele der Sozialarbeiter, die in den jüdischen Gemeinden in Deutschland mit Überlebenden arbeiten, hätten das beobachtet, sagt Noemi Stazweski: dass die "Jüngeren" auf ihre ganz eigene Art und Weise traumatisiert seien. Als Kinder entwurzelt, alleingelassen, geflohen, deportiert. In der Nachkriegszeit wurden sie zwar häufig zu Erwachsenen, die Familien gründeten, eine Ausbildung machten, sich neu niederließen und ihren Weg gingen. Doch jetzt, wo sie älter würden, zwischen 70 und 80 Jahren alt seien, hole die Vergangenheit viele von ihnen ein.

Die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Child Survivor kommt aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie fühlten sich nicht akzeptiert, fühlten sich abgewiesen von einem Land, dass die Heimat ihrer Eltern war, in dem ihren Eltern die Heimat genommen wurde, erklärt Noemi Stazweski. "Es war eine bewusste politische Entscheidung, diese Menschen nach Deutschland einzuladen." Doch als die Überlebenden kamen, sei entweder ihre Ausbildung nicht anerkannt worden, da sie aus einem kaputten System kamen, oder sie seien bereits zu alt gewesen, um in die Arbeitswelt integriert zu werden.

Das Klacken der Gestapo-Stiefel im Hof

Viele dieser Eingewanderten lebten von Grundhilfe, sagt Stazweski. Sie kämen in die Beratungststellen der jüdischen Gemeinden, weil sie Hilfe bei dem Beschaffen von Papieren bräuchten oder bei der Suche nach ihren Vorfahren. Und wenn es um organisatorische Dinge gehe, könnten die Sozialarbeiter auch helfen. Doch vor den sich häufenden Zusammenbrüchen, die sie in ihren Sprechstunden erleben, stehen sie bisher noch einigermaßen ratlos.

Deswegen hat die ZWST die Konferenz einberufen. Die Mitarbeiter wollen wissen, wie sie den von Ängsten geplagten Überlebenden helfen können. "Deutschland hat diesen Menschen die Möglichkeit gegeben einzuwandern", sagt Noemi Stazweski. Und deshalb sei es jetzt auch Deutschlands Pflicht, dieser vergessenen Generation zu helfen und ihnen ein würdiges Altwerden zu ermöglichen.

Der Gerontologe Andreas Kruse aus Heidelberg erklärt die Zusammenbrüche mit Posttraumatischen Belastungsstörungen. Schreckliche Erlebnisse in der Kindheit kämen im Alter häufig wieder hoch, da das Kurzzeitgedächtnis schwinde, die Bilder der Kindheit würden wieder präsent. Die Schritte im Hof könnten dann an das Klacken der Gestapo-Stiefel erinnern, ein Zeichen dafür, sich zu verstecken. "Posttraumatische Reifung" nennt Kruse das. Wer vorher mit seinem Alltag gut zurecht kam, sieht sich jetzt wieder alten Ängsten ausgeliefert.

Der Schlüssel: Die Sprachlosigkeit der Opfer überwinden

In einer Studie hat Kruse 248 Überlebende des Holocaust zu ihrer Identität befragt und dazu, wie sie sich heute fühlen. "Neben der Verarbeitung des eigenen Leids streben die Menschen in den öffentlichen Raum", hat Kruse herausgefunden. Die Überlebenden wollten, dass ihr Leid anerkannt wird, dass gesehen werde, was sie in ihrem Leben geleistet haben, nachdem sie der Shoah entkamen. Sie wollten Mitverantwortung tragen, ihre Geschichte erzählen, ihre Erlebnisse an die nachfolgenden Generationen weitergeben.

Die schlimmen Erlebnisse weitergeben, darüber sprechen, was ihnen Schlimmes und auch Gutes wiederfahren ist, an so etwas denkt auch Noemi Stazweski für ihren Treffpunkt für Überlebende. Im Kleinen gäbe es schon Gruppen, doch die Betreuungsangebote müssten in Deutschland insgesamt besser werden, sagt sie. Die Überlebenden seien im Übergang alt zu werden, in Pflegeheime zu kommen. Bevor es so weit sei, müsse man Angebote für die Child Survivor haben, müsse man Pflegepersonal, Sozialarbeiter und Psychologen darauf vorbereiten, welche Päckchen diese Menschen tragen.

Und wie sollen die Sozialarbeiter reagieren, wenn Überlebende ihnen ihre Geschichte erzählen, fragt eine Frau aus dem Publikum? David Pelcovitz empfiehlt, den Überlebenden zunächst einfach nur zu zuhören. Die Erinnerungen der Vergangenheit reichten in die Gegenwart hinein und beeinflussten sie. "Die Menschen müssen dem Monster einen Namen geben", sagt Pelcovitz. Der Schlüssel sei, die Sprachlosigkeit zu überwinden. Und als die kleine weißhaarige Frau ihre Geschichte erzählt hat, von Auschwitz, von der harten Arbeit und den rauchenden Schornsteinen, als sie sich zitternd wieder setzt, da bedankt er sich bei ihr: "Danke, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast."


Lilith Becker arbeitet als freie Journalistin für Hörfunk, Fernsehen und Print in Frankfurt am Main und in Essen.