"Unser Freund": Frankreich, Tunesien und das Kolonialerbe

"Unser Freund": Frankreich, Tunesien und das Kolonialerbe
Auch nach der Unabhängigkeit von 1956 blieben die Beziehungen Frankreichs zu seinem früheren Protektorat Tunesien besonders eng. Das Interesse an der Beibehaltung des Vorzugspartners Ben Ali machte die Pariser Diplomatie zuletzt blind und taub für das Ausmass der Menschenrechtsverletzungen und der Korruption eines Diktators, der als "Musterschüler" und Bollwerk gegen den islamistischen Terrorismus gefeiert wurde. Peinlich, meinen dazu die französischen Medien und die öffentliche Meinung.
21.01.2011
Von Rudolf Balmer

Wenige Stunden vor der Flucht des tunesischen Herrschers und seiner Familie unter dem Druck der Straße meldete der französische Botschafter aus Tunis nach Paris: "Ben Ali hat die Lage wieder unter Kontrolle." Das war eine dramatische, aber zugleich sehr bezeichnende Fehleinschätzung. Denn sehr viele in Frankreich konnten oder wollten sich nicht vorstellen, dass ein Volksaufstand für die Freiheit und demokratische Rechte den als unersetzlich eingeschätzten Partner in Karthago stürzen könnte.

Während Wochen und bis zum Schluss blieb die Pariser Staatsführung überaus vorsichtig abwartend und schwieg sich auch weitgehend zur blutigen Repression und der rasch steigenden Zahl der Opfer in der Bevölkerung aus. Während die EU die Schüsse der tunesischen Ordnungskräfte auf das eigene Volk verurteilte, äußerte Paris nur gerade sein "Bedauern" über die Gewalt und rechtfertigte die eigene Zurückhaltung mit einem Verzicht auf eine "Einmischung" in die inneren Angelegenheiten eines befreundeten Landes.

Schon Mitterand pflegte die Freundschaft zu Ben Ali

Dies hinderte aber die Außenministerin Michèle Alliot-Marie nicht, mitten in der dramatischen Zuspitzung des Kampfs um Freiheit und Macht, in einer Stellungnahme vor den französischen Abgeordneten den tunesischen Behörden Frankreichs "in aller Welt anerkanntes Knowhow bei der Beilegung (solcher) Sicherheitsprobleme" anzubieten. Dass dies ein peinlicher Fauxpas war, dem Regime in Tunis so unter Berufung auf Kooperationsabkommen Schützenhilfe bei der Niederschlagung von Demonstrationen in Aussicht zu stellen, stellt die Ministerin als böswillige Unterstellung in Abrede.

Wie der Botschafter in Tunis, der für Sarkozy zum Sündenbock der verpassten Wende wird, sind nun auch einige Regierungsmitglieder durch die rasche Entwicklung desavouiert worden. Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire versicherte drei Tage vor der Flucht des tunesischen Diktators: "Präsident Ben Ali ist jemand, der oft falsch verstanden wird." Kulturminister Frédéric Mitterrand hatte noch im Dezember erklärt: "Zu sagen, das Tunesien eindeutig eine Diktatur sei, wie man das oft hört, erscheint mir völlig übertrieben."

Auch sein Onkel, der frühere Staatspräsident François Mitterrand, war schon dieser Meinung, als er 1988 mit einem Galaempfang für den neuen tunesischen Staatschef in Paris eine lange und innige Partnerschaft einleitete, die von Jacques Chirac anschließend noch vertieft und schließlich vom gegenwärtigen Präsidenten Sarkozy kritiklos und bis zuletzt fortgesetzt wurde.

Immer der gleiche Refrain im Loblied

Die Interessen liegen auf der Hand: Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich ist vor Italien und Deutschland wichtigster Lieferant für sein einstiges "Protektorat" Tunesien, das einen Drittel seiner Güter nach Frankreich exportiert und so für Paris trotz seiner bescheidenen Größe der fünfte Handelspartner der Nicht-OECD-Staaten darstellt.

Der Refrain im Loblied auf den Partner in Tunesien war in etwa immer derselbe: Er wurde als Garant stabiler Wirtschaftsbeziehungen und als Bollwerk gegen ein Aufkommen islamistischer und anderer extremistischer Kräfte gefeiert, der zudem sein Land mit einer weltlichen Verfassung auch im Bereich der Emanzipation der Frau modernisiere. Diverse Verstöße gegen die Menschenrechte wurden diesem "Musterschüler" in den drei Maghreb-Staaten, die Frankreichs wichtigste Einflusszone bilden, nur zu gerne nachgesehen.

Fast könnte man sagen, dass je schlimmer die Korruption und die Unterdrückung in Tunesien, desto nachsichtiger die Kommentare aus Paris. So glaubte Sarkozy bei seinem Besuch in Tunis 2008 zu wissen, dass der "Raum der Freiheit Fortschritte erzielt". Dem damaligen Außenminister Bernard Kouchner, der den Präsidenten vor diesem "ungeschickten" Satz warnte, drohte der Staatschef mit dem Rausschmiss aus der Regierung. Für Sarkozy war "unser Freund Ben Ali" ein unverzichtbarer Partner beim Aufbau der von ihm gegründeten Mittelmeerunion. Heute wird Sarkozy von den peinlich gewordenen Bildern dieser Freundschaft eingeholt.

"Das Ausmaß der Verbitterung unterschätzt"

Als "unverzeihlich" bezeichnet der Schriftsteller Abdelwahab Meddeb - wie viele der rund 600.000 in Frankreich lebenden Tunesier - das "Schweigen der Intellektuellen und Politiker in Paris" während der letzten Tage der Diktatur. Frankreich, das sich sonst gern als Hüter der Menschenrechte feiern lässt, scheint in diesem Fall ganz materielle Interessen oder politische Hintergedanken über die Verteidigung seiner demokratischen Grundprinzipien gestellt zu haben. Im Außenministerium, wo manche Experten längst vor der beschönigten Betrachtung des Ben-Ali-Regimes gewarnt hatten, herrscht nachträglich "Konsternation".

Als Einziger in der französischen Regierung riskierte Verteidigungsminister Alain Juppé unter dem Beschuss der Medien eine zaghafte Selbstkritik: "Zweifellos haben die einen oder anderen von uns das Ausmaß der Verbitterung in der öffentlichen Meinung über ein repressives und diktatorisches Regime unterschätzt."


Rudolf Balmer arbeitet in Paris als Korrespondent unter anderem für die Berliner "tageszeitung".