Kai Diekmann: Seit zehn Jahren "Bild"-Chef

Kai Diekmann: Seit zehn Jahren "Bild"-Chef
Kai Diekmann ist erst 46 und schon seit zehn Jahren Chefredakteur der Bild-Zeitung, der meistverkauften Zeitung Europas. Was kann da noch kommen? Ein Porträt.
27.12.2010
Von Rolf Westermann

Hoch oben über Berlin wird Europas auflagenstärkste Zeitung gemacht. Wenn "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann aus dem Fenster seines Büros im 16. Stock des Springer-Hochhauses schaut, kann er die Welt als Spielzeuglandschaft sehen. Ein paar Schritte davon entfernt entstehen Schlagzeilen wie "Wir sind Papst", "Horst Wer?" (zum Amtsantritt von Bundespräsident Köhler), aber auch "Lottozahlen immer blöder" oder "Feuerameisen überfallen Europa".

Bodenhaftung ist gefragt, um die richtige Themenmischung für rund drei Millionen verkaufte Zeitungen täglich mit zwölf Millionen Lesern zu finden. Nun ist Diekmann zehn Jahre im Amt, so lang wie keiner seiner Vorgänger.

"Als Chefredakteur der "Bild"-Zeitung kann man nicht der beliebteste Journalist sein", sagt der 46-Jährige. "Dafür ist die Zeitung zu laut, zu unbequem, zu emotional und tritt oft genug auch jemandem auf die Füße." Dazu gehören Schlagzeilen, wie über die Alkoholfahrt von Margot Käßmann, die sie schließlich den Vorsitz der Evangelischen Kirche Deutschlands kostete. "Das sind Dinge, die man nicht locker wegschüttelt", sagt Diekmann. "Ich hatte ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihr. Dann jemanden anzurufen und zu sagen, wir haben eine unangenehme Geschichte über Sie - das geht nicht spurlos an mir vorbei. Aber wir müssen die Schlagzeilen machen, die wir machen müssen."

Kein gradliniger Aufstieg

Diekmanns Aufstieg war nicht immer geradlinig: Als der frühere Vorstandschef Jürgen Richter ihn 1997 als Vizechef bei "Bild" absetzte und zum Springer-Auslandsdienst beorderte, wollte Diekmann das Unternehmen verlassen. Dann ging er aber erst einmal auf eine längere Auslandsreise und bekam einige Monate später in Panama einen Anruf vom Verlag: "Komm zurück, Herr Richter hat uns verlassen."

Nach einer Station als Chefredakteur der "Welt am Sonntag" wurde er "Bild"-Chef, seit Ostern 2008 ist das Blatt in Berlin. "Der Umzug hat auf die Redaktion wie ein Jungbrunnen gewirkt. Wir stehen hier so mitten im Leben wie nie zuvor", erklärt Diekmann. Mitarbeiter schätzen seinen offenen und entspannten Umgang. So taucht er schon mal mit Ehefrau und Kindern in der Kantine auf. Bei Partys ist er manchmal mit einer winzigen Videokamera unterwegs und interviewt Prominente, er hat gebloggt und Bücher geschrieben. Aber "Kai", wie er von vielen Mitarbeitern vertraut und ehrfürchtig zugleich genannt wird, kann auch in aller Frühe einen Redaktionsleiter in die Mangel nehmen, wenn ein wichtiges Thema fehlt. Gefürchtet sind seine beißend-ironischen Bemerkungen, wenn etwas gründlich schief gegangen ist.

"Bild" spaltet

Das Schmuddelblatt-Image hat "Bild" lange hinter sich gelassen. "Ich kenne keinen mehr, der sich schämt, wenn er "Bild" liest", sagt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz. "Wenn man sieht, wer inzwischen alles für "Bild" schreibt, von Alice Schwarzer bis Ernst Elitz, das hätte man sich früher nie träumen lassen." Das Blatt gehört zu den am meisten zitierten Medien. Im Fußball gibt es fast keine Trainerentlassung, ohne dass "Bild" dies vorab meldet.

Doch gleichzeitig spaltet kaum ein Medium die Nation so wie "Bild". So schäumte vor kurzem die Brandenburger SPD, als "Bild" Ungereimtheiten über den inzwischen zurückgetretenen Innenminister Rainer Speer (SPD) aufdeckte. Von einer Kampagne und Kriegserklärung war die Rede. Dann wiederum verteidigt "Bild" den Besuch von Stephanie zu Guttenberg in Afghanistan recht aggressiv und titelt:
"Wir finden die GUTT! Nörgler, Neider, Niederschreiber: Einfach mal die Klappe halten!"

Unbestritten ist der wirtschaftliche Erfolg. 2010 - im Jahr nach der schweren Wirtschaftskrise - erzielte "Bild" wiederholt einen Rekordgewinn. Das Anzeigengeschäft brummt, und in der Ära Diekmann wurde der Verkaufspreis von 35 auf 60 Cent erhöht. Doch Rekorde gibt es auch an anderer Stelle: Der Deutsche Presserat - das Selbstkontrollorgan der Branche - bekam seit der Jahrtausendwende mehr als 2000 Eingaben und Beschwerden gegen "Bild" und "Bild am Sonntag". Das Gremium sprach aber nur 62 Rügen aus. "Die große Anzahl an Beschwerden ist ein statistisches Phänomen, denn wir haben die meisten Leser", meint Diekmann. "Und wir sind nicht bequem. Die meisten Beschwerden sind aber substanzlos."

Weniger "kalkulierte Rechtsbrüche"?

Selbst Medienanwalt Christian Schertz, der Prominente schon öfter in Prozessen gegen "Bild" vertreten hat, sieht eine Besserung: "Während bei "Bild" lange Zeit definitiv von einem kalkulierten Rechtsbruch gesprochen werden konnte, muss man zugestehen, dass "Bild" in den letzten Jahren, was Persönlichkeitsrechtsverletzungen angeht, in nicht undifferenzierter Weise abgerüstet hat. So sind besonders schwere Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die Schmerzensgelder rechtfertigen, definitiv weniger geworden", erklärt er.

Probleme sieht er bei Berichten über Unglücke. "Hier sind immer wieder Persönlichkeitsrechtsverletzungen der Opfer und ihrer Angehörigen nach wie vor festzustellen, wie bei der Berichterstattung über die Katastrophe auf der Loveparade in Duisburg oder den Amoklauf in Winnenden." Das weist der Chefredakteur allerdings zurück und meint: "Gerade die Loveparade und Winnenden sind gute Beispiele für den Informationsauftrag der Presse, auch wenn die Bilder wehtun. Davon abgesehen, dass alle Medien ausführlich berichtet und notwendigerweise die schlimmen Bilder gezeigt haben, wurde unsere Berichterstattung im Kern auch nicht vom Presserat kritisiert."

Stolz auf die Leserreporter

Stolz ist Diekmann auf die Einbindung von "Leserreportern". Seit 2006 hätten sie 766.604 Fotos eingeschickt. "Es war das erste Organ, das erkannt hat, dass die eigenen Leser auch Inhalte beisteuern können", sagt Medienprofessor Bolz. Bis heute hat die Zeitung mehr als 14.500 dieser Bilder gedruckt ¬ nicht nur Promis im Bademantel, sondern auch Bilder mit Relevanz, wie das einzige aktuelle Foto von Kurt Beck bei seinem Rücktritt als SPD-Chef. Größte Panne war 2001 die falsche Interpretation eines Demo-Fotos von Jürgen Trittin. "Bild" meinte, einen Schlagstock und Bolzenschneider in den Händen des Grünen-Politikers zu erkennen - ein krasser Fehler, für den sich Diekmann entschuldigte.

Diekmann modernisierte die Zeitung und führte für einige Monate eine im Internet veröffentlichte Blattkritik ein - und er bildete einen Leserbeirat. Dieser empfahl kürzlich auf der Titelseite ein moderneres Frauenbild, mehr Berichte über Wirtschaft, Bildung und Soziales sowie weniger Artikel über C-Promis und einen Verzicht auf übertriebene Gewaltdarstellungen. Wird "Bild" nun zur Boulevard-FAZ? "Quatsch", sagt Diekmann. "Bild war immer ein Gegenentwurf zu den anderen Medien und weil diese immer boulevardesker werden, gehen wir in die andere Richtung."

Trotzdem wird auch Diekmann nicht verhindern können, dass die Auflage bald auf unter drei Millionen rutscht - bei seinem Amtsantritt waren es rund 4,3 Millionen. "Diese sogenannte psychologische Grenze ist eine Chimäre. Wir erreichen mehr Leser als je zuvor, sind wirtschaftlich so erfolgreich wie nie und haben die Relevanz gesteigert." Die Verkaufsauflage ist nämlich nur noch eine Messgröße neben der Reichweite der gedruckten Zeitung und digitalen Angeboten wie "Bild"-Online und Apps für mobile Geräte.

dpa