Nach Missbrauchsaffäre: Ruf nach kirchlicher Neuausrichtung

Nach Missbrauchsaffäre: Ruf nach kirchlicher Neuausrichtung
Das spektakuläre Münchner Gutachten zur systematischen Vertuschung von Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen zeigt nach Ansicht der Reformbewegung "Wir sind Kirche", dass eine umfassende Neuausrichtung der Amtskirche notwendig ist.

Es reiche nicht aus, die Prävention zu stärken und mit verbesserten Strukturen künftig eine Vertuschung zu verhindern, sagte "Wir sind Kirche"-Sprecher Christian Weisner in München. Denn natürlich müsse man von einem Zusammenhang zwischen der Missbrauchsaffäre einerseits und der Priesterverpflichtung zur Ehelosigkeit sowie der problematischen kirchlichen Sexualmoral andererseits ausgehen.

Zölibatsfrage weiter ungeklärt

So sei in der Kirchenlehre die brennende Frage zum Zölibat weiter ungeklärt, ob ein Mensch seine Sexualität völlig negieren könne, sagte Weisner. Die Kirche müsse auch erkennen, dass sie in ihrer festgefahrenen Sexuallehre den Kontakt nicht nur zur Jugend längst verloren habe. Die Kirchenspitze und damit in erster Linie Papst Benedikt XVI. müssten hier einen Paradigmenwechsel einleiten, ähnlich wie sich die Kirche in früheren Jahrhunderten auch von der Hexenverbrennung habe verabschieden müssen.

Der "Wir sind Kirche"-Sprecher lobte aber ausdrücklich den Beschluss des Erzbischöflichen Ordinariats in München, neben der Berufung eines Missbrauchsbeauftragten auch eine unabhängige Studie zu der Frage zu bestellen, welche strukturellen Ursachen überhaupt die ganze Missbrauchsaffäre ermöglicht hätten. "Das ist ein richtiger Ansatz", sagte Weisner. "Der Erkenntnisgrad des Gutachtens ist hoch, aber auch sehr schockierend." Die aufgedeckten Vertuschungsmechanismen müssten jedoch nicht nur in München, sondern in ähnlicher Form bundesweit aufgearbeitet werden.

Systematische Vertuschung festgestellt

Das Erzbischöfliche Ordinariat in München hatte die Rechtsanwältin Marion Westpfahl als unabhängige Gutachterin beauftragt, in einer bundesweit bisher einzigartigen Studie die strukturellen Hintergründe der Missbrauchsaffäre zu untersuchen. Dazu ließ die frühere Staatsanwältin und Richterin rund 13.200 Akten des Erzbistums München und Freising aus den Jahren 1945 bis 2009 durchforsten. Ergebnis: Sie stellte eine systematische Vertuschung und Aktenvernichtung durch Kirchenmitarbeiter fest, ebenso ein falsch verstandenes "brüderliches Miteinander" in der Kirche und eine völlige Missachtung der Opfer.

"Die Ergebnisse des Gutachtens sind starker Tobak", sagte Weisner. Man müsse davon ausgehen, dass es in den sonstigen Bistümern nichts anders aussehe. "Die Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsaffäre ist noch lange nicht vorbei." Überfällig sei ein Gesamtbericht für alle Bistümer in Deutschland. "Denn man kann es ja wohl schlecht weiter nur den örtlichen Bischöfen überlassen, welchen Weg der Aufklärung sie gehen wollen", betonte Weisner. Überfällig sei auch der Brief an die Gemeinden vom Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Robert Zollitsch, zur Missbrauchsaffäre, der bereits für Ende November angekündigt worden und offenbar am Widerstand einzelner Bischöfe gescheitert sei.

Ratzingers Amtszeit "blinder Fleck"?

Weisner nannte es bedauerlich, dass die Amtszeit des früheren Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger - des heutigen Papstes - in Westpfahls Untersuchung "ein blinder Fleck geblieben ist". Offenbar hänge es mit der Aktenvernichtung übereifriger Kirchenmitarbeiter zusammen, dass die Gutachter aus Westpfahls Kanzlei nur ein einziges Dokument gefunden hätten, in dem Ratzinger selbst in einen Missbrauchsfall eingeschaltet war. Nach Angaben von Westpfahl hatte Ratzinger darin einem wegen Missbrauchs aufgefallenen Priester klargemacht, dass er aus seiner Pfarrei entfernt werden müsse. "Nur dabei trat Ratzinger greifbar in Erscheinung."

Aus dem am Freitag in der bayerischen Landeshauptstadt vorgelegten Bericht geht hervor, dass mindestens 159 Priester, von denen 26 wegen Sexualdelikten verurteilt wurden, und 96 katholische Religionslehrer in Fälle sexuellen Missbrauchs verstrickt gewesen sind. Alle Personen seien bereits verstorben, so Westpfahl. Es sei jedoch von einer sehr viel höheren Zahl von Fällen auszugehen, da Akten vernichtet worden seien und "der Ungeist der Vertuschung erfolgreich war", sagte die Juristin, die gemeinsam mit weiteren Gutachtern mit der Sichtung der Akten beauftragt worden war.

"Wir bitten als Kirche um Vergebung"

Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx (Foto: dpa), der das 250 Seiten starke Gutachten in Auftrag gegeben hatte, bat die Opfer im Namen der Kirche um Vergebung. "Es waren die sicher schlimmsten Monate meines Lebens", so Marx, der seit 2008 das Erzbistum München und Freising leitet und vor kurzem zum Kardinal ernannt worden war. Er empfinde Scham, Traurigkeit und Betroffenheit. "Wir bitten als Kirche um Vergebung für das, was Mitarbeiter der Kirche getan haben." Die Glaubwürdigkeit der Kirche habe schweren Schaden genommen.

Bei der Untersuchung sei sie oft an Grenzen gestoßen, nicht wegen mangelnden Aufklärungswillens, sondern wegen einer Aktenvernichtung im großen Stil, sagte die Anwältin. Wichtige Schriftstücke, die mögliche weitere Fälle von Sexualmissbrauch belegen könnten, seien unvollständig gewesen, einen Teil der Akten habe man nach dem Tod von Klerikern in Privatwohnungen gefunden. Eine Zentralerfassung des Aktenbestandes, wie sie bei jeder Verwaltung üblich sei, existiere nicht. Viele untersuchte Schriftstücke hätten einen "euphemistischen, verharmlosenden Sprachgebrauch", so die Juristin. Die Auswirkungen auf das Opfer seien nur zu erahnen. Die betroffenen Kinder seien einer Vereinsamung ausgesetzt gewesen und gar nicht wahrgenommen worden.

Die Wehleidigkeit der Täter

Über die Täter fanden die Gutachter heraus, dass sie in vielen Fällen psychisch und physisch gering belastbar gewesen seien. Westpfahl sprach von "Wehleidigkeit und Selbstmitleid". Viele hätten sich hinter Krankheiten verschanzt. Bei der überwiegenden Zahl der Täter handle es sich um Männer zwischen 45 und 65 Jahren. Auffällig sei häufiger Alkoholmissbrauch gewesen. Ein Missbrauchsbeauftragter, wie ihn die katholische Deutsche Bischofskonferenz einsetzen will, müsse jährlich einen Bericht abliefern und weitestgehende Entscheidungskompetenzen erhalten, forderte die Juristin. Zudem müssten die berechtigten Opferinteressen noch besser berücksichtigt werden.

dpa/epd