Imam-Weiterbildung: Von der Kanzel in den Hörsaal

Imam-Weiterbildung: Von der Kanzel in den Hörsaal
30 Imame und muslimische Seelsorgerinnen bilden sich an der Universität Osnabrück weiter, um für den Arbeitsalltag in der deutschen Diaspora gerüstet zu sein.
03.12.2010
Von Annedore Beelte

Das Diagramm, das Michael Kiefer auf die Leinwand projiziert, hat zwei Seiten. Rechts sieht es übersichtlich aus: Grundschule, Gymnasium, Hochschule. Auf der linken Seite lassen ineinander verschachtelte Balken ahnen, wie viel komplizierter es ist, auf dem Umweg über Haupt- und Berufsschule eine höhere Bildung zu erwerben. Ein Seminarteilnehmer unterbricht den Dozenten höflich, aber bestimmt. "Mit einem Hauptschulabschluss ist es doch schon schwierig, überhaupt eine Berufsausbildung zu bekommen", wirft er ein. Eine Kommilitonin berichtet, unter welchem Druck die Jugendlichen in ihrer Gemeinde stehen, weil die Eltern sie unbedingt auf dem Gymnasium sehen wollen.

Die Fragen, die die muslimischen Seelsorger im ersten akademischen Weiterbildungsprogramm für Imame an einer deutschen Universität beschäftigen, sind an diesem Nachmittag in Osnabrück sehr praktischer Art. Sie wollen wissen, wie man Kindern von Hartz IV-Empfängern eine Klassenfahrt ermöglichen kann und welche Chancen der zweite Bildungsweg bietet.

Vorbeter, Sozialarbeiter, Berater

"Imame haben eine Brückenfunktion", sagt Rauf Ceylan, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Osnabrück. "In Deutschland sind sie nicht mehr nur Vorbeter, sondern auch Sozialarbeiter, Schuldner- oder Eheberater." Um besser für die vielen Aufgaben gerüstet zu sein, pauken sie in Osnabrück deutsche Geschichte, Politik, Recht und Soziologie, außerdem Pädagogik für die Gemeindearbeit.

Schon zehn Minuten vor Seminarbeginn sitzen die meisten der 30 Teilnehmer in den Bänken. Said Elhabti reist aus Erkrath bei Düsseldorf zu den Blockseminaren an. Seit drei Jahren arbeitet der Theologe aus Marokko für eine Gemeinde, die vornehmlich aus Landsleuten besteht. Um neue Erfahrungen zu sammeln, erzählt er, hat er sich um den Job in Deutschland beworben. Von der Weiterbildung wünscht er sich, mehr über die deutsche Kultur und Gesellschaft zu erfahren - und Antworten auf die Probleme der Jugendlichen in seiner Gemeinde zu finden.

Offen auf die Umwelt zugehen

Elhabti könnte damit als Musterbeispiel für jene Minderheit der Imame gelten, die Rauf Ceylan in seiner Studie "Die Prediger des Islam" als "intellektuell-offensiv" charakterisiert: Gelehrte, die von Ehrgeiz und Neugier motiviert sind und offen auf ihre deutsche Umwelt zugehen. "Die Teilnehmer sind keineswegs repräsentativ für die Imame in Deutschland", meint auch der Islamwissenschaftler Michael Kiefer, der in Osnabrück unterrichtet.

Sekic Redzo (Foto) arbeitet in Teilzeit als Imam. Sein Gehalt bringen die Mitglieder seiner beiden Gemeinden in Bochum und Enschede selbst auf. Saliha ?ahin und die anderen weiblichen Teilnehmerinnen dagegen arbeiten ehrenamtlich. Die medizinisch-technische Assistentin aus Osnabrück nimmt an der Weiterbildung teil, um Kontakte zu knüpfen und "up to date" zu sein für die Mädchenarbeit in ihrer Gemeinde. "Die Hochschulen müssen die Frauen in der muslimischen Gemeinschaft stärken", meint Rauf Ceylan. Unter den 80 Bewerbern für die Weiterbildung waren vier Frauen, alle wurden akzeptiert.

Partner der Universität beim Aufbau einer islamischen Theologie ist die Schura Niedersachsen, ein Zusammenschluss islamischer Verbände, der rund 85 Moscheegemeinden vertritt. Die DITIB, ein Ableger des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei mit 63 Gemeinden in Niedersachsen, beteiligt sich nicht an der Weiterbildung. Imame der DITIB sind Beamte des türkischen Staates, die nach wenigen Jahren ausgetauscht und durch Kollegen ersetzt werden, die sich dann wieder neu in die deutsche Lebenswirklichkeit einfinden müssen.

DITIB besteht auf eigenem Ausbildungssystem

Die DITIB, immerhin der größte Arbeitgeber von Imamen in Deutschland, besteht auf ihrem eigenen Ausbildungssystem in der Türkei. Solche Verhandlungen brauchen Zeit, meint Rauf Ceylan diplomatisch. Er erinnert daran, dass die DITIB vor 15 Jahren noch islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen abgelehnt habe - davon kann heute keine Rede mehr sein.

"Ich habe ein neues Projekt", berichtet Said Elhabti: "Predigt auf Deutsch". Im Anschluss an seine arabische Freitagspredigt gibt er eine deutsche Zusammenfassung. Er hat einmal in Deutschland aufgewachsene Jugendliche gefragt, was sie eigentlich von seiner Predigt verstehen. Die Antwort: "Gar nichts." Die gleiche Erfahrung macht sein bosnischstämmiger Kollege Sekic Redzo. Zum Freitagsgebet kommen nicht nur Bosnier, sondern auch Türken. Die verbindende Sprache ist Deutsch. In dem Weiterbildungskurs soll nun ein Wörterbuch entstehen, das deutsche Begriffe für Gegenstände und Ideen aus dem Islam zusammenträgt.

"In jeder Gemeinde sollten Frauen und Männer mitarbeiten", findet Saliha ?ahin (Foto). "Es muss auch weibliche Vorbilder geben." "Vorbild" ist die Übersetzung des Wortes Imam. Diese Vorbildfunktion ist für die junge Frau wichtiger als die Leitung des Gemeinschaftsgebetes, die nach allen islamischen Rechtsschulen Männern vorbehalten ist. "Männer und Frauen sind gleichberechtigt, aber sie haben verschiedene Aufgaben", meint Saliha ?ahin.


Annedore Beelte arbeitet als freie Journalistin in Oldenburg.