Die Schweiz war dieser Tage in aller Munde. Nicht nur, weil sie leckere Weihnachtsschokolade exportiert, sondern auch, weil die Schweizer Volkspartei mit ihrem Volksbegehren zur "zwingenden Ausschaffung" von kriminellen Ausländern erfolgreich war. Die Schweizer Basisdemokratie hatte schon im November 2009 mit dem Minarettverbot für Aufsehen in Europa gesorgt. Die nun beschlossene Abschiebungsinitiative lässt die Eidgenossen nicht besser dastehen. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass es eine ausländerfeindliche Stimmung in der Schweiz gibt, besonders in den deutschsprachigen Kantonen, die der Initiative überwiegend zugestimmt haben.
Auch Geißler setzt auf mehr Volksbeteiligung
Trotzdem muss man konstatieren: Das Volk in der Schweiz hat so abgestimmt, daher muss sich die Schweiz daran halten. Einen bindenden Volksentscheid hatten sich auch die Gegner von Stuttgart 21 gewünscht. Sie gingen davon aus, dass das Volk in ihrem Sinne entschieden hätte. Volksentscheide haben aber an sich, dass die Seite, die zu gewinnen glaubt, immer dafür ist, die andere ist dagegen. Je nach Thema dreht sich das hin und her. Der hoffnungsvolleren Seite gilt der Volksentscheid aber immer als Waffe gegen das Handeln der Politiker. "Was die da oben machen, wollen die Leute nicht, also sollen die Leute selbst entscheiden", das ist der Tenor.
Heiner Geißler hat in seinem Schlichterspruch am Dienstag diese Frage klug diskutiert. "Dürfen Bürger den Parlamenten nachträglich in die Parade fahren?", fragte er, ohne selbst eine Antwort darauf zu geben. Aber dass sich etwas ändern müsse, da war sich der Schlichter sicher: "In der Zeit der Mediendemokratie kann die Demokratie nicht mehr so funktionieren wie im letzten Jahrhundert."
Wie aber soll sie funktionieren? "Wir brauchen nach meiner Auffassung in Deutschland eine stärkere Umsetzung unmittelbarer Demokratie", meinte Geißler und forderte im gleichen Atemzug, das Beteiligungsverfahren der Schweiz zu übernehmen, "zumindest bei Großprojekten". Dabei bezog er sich nicht auf landesweite Volksentscheide, sondern vor allem auf eine sorgfältigere Bürgerbeteiligung. Geißler machte deutlich, dass er keine Alternative zu einer "institutionalisierten Bürgerbeteiligung auf Augenhöhe" sieht: In jeder Phase des Projekts müssten die Bürger beteiligt sein, von der Zielfindung über die Planung bis zur Umsetzung.
Emotionalität durch Sachlichkeit ergänzen
Mit seiner Schlichtung hat Heiner Geißler das beste Beispiel dafür geliefert, wie so etwas prinzipiell gehen kann, und zwar durchaus im Gegensatz zur Schweizer Volksabstimmung. Denn in der Schweiz fiel die Entscheidung über die "Ausschaffung" – so erschien es zumindest in der Berichterstattung – eher auf emotionaler Ebene. Die SVP argumentierte mit der höheren Kriminalitätsquote bei Ausländern und zeigte auf ihren Wahlplakaten weiße Schafe, die ein schwarzes Schaf aus der Schweiz traten. Das wirkte.
Eine differenzierte Betrachtung des Problems war der Mehrheit nicht geheuer: Der Entwurf der Schweizer Regierung, der eine Einzelfallprüfung vorsah und weit mehr im Einklang mit europäischen Menschenrechtsvorstellungen war, fiel sang- und klanglos durch.
Geißler dagegen hat es geschafft, in der Schlichtung die Emotionalität durch Sachlichkeit zu ergänzen. "Ich danke den Teilnehmern für die auf hohem Niveau geführten sachlichen Debatten", so schloss Geißler seinen Schlichterspruch. Das war sein Rezept: alle Fakten sollten auf den Tisch kommen, die Argumentation der beiden Seiten nicht auf mediengerechte Versatzstücke reduziert werden, sondern in ihrer ganzen Herleitung sichtbar werden, und zwar unter den Augen der Öffentlichkeit. Damit hat Geißler ein Ziel seiner Schlichtung erreicht, nämlich "Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Demokratie zurückzugewinnen".
Argumente sollten in einer Demokratie selbstverständlich sein
Die Schlichtung von S21 kann ein Erfolgsmodell sein. Die Bereitschaft, statt Konfrontation Argumentation zuzulassen, die andere Seite anzuhören und am Ende eine von Sachargumenten beeinflusste Entscheidung zu treffen sollte eigentlich selbstverständlich sein in einer Demokratie, ganz besonders bei gewählten Vertretern in einer parlamentarischen Demokratie. Leider ist das nicht immer so, "aufgrund parlamentarischer Zwänge" oder weshalb auch immer.
Das Modell der Schlichtung ist natürlich nicht neu. Heiner Geißler selbst kennt es aus den Tarifverhandlungen, die er geleitet hat. Dort ist der Schlichterspruch verbindlich, und beide Parteien verpflichten sich vorher, ihn anzuerkennen. Das war in Stuttgart anders. Trotzdem hat Geißlers abschließender Rat eine politische und psychologische Wirkung, der sich die Beteiligten durch die große Öffentlichkeit und durch ihre erklärte Bereitschaft, unter Geißlers Bedingungen an der Schlichtung teilzunehmen, kaum entziehen können.
So demonstriert Stuttgart 21, wie zwischen einer von Machterwägungen gelenkten Politik und einem von Emotionen aufgewühlten Volk eine Form der sachlichen und gleichberechtigten politischen Beteiligung entstehen kann, die funktioniert. Für Heiner Geißler war – in seinen Worten – der öffentliche, transparente Prozess "moderne Aufklärung im besten Sinne von Immanuel Kant, nämlich die Menschen zu befähigen, sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und sie zu befähigen, selbst zu denken." Da wünscht man sich, es gebe mehr Heiner Geißlers in diesem Land. Vielleicht macht das Modell ja Schule. Es wäre schön.
Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Umwelt + Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".