Wikileaks erschüttert die Weltdiplomatie

Wikileaks erschüttert die Weltdiplomatie
Mit der Veröffentlichung vertraulicher US-Diplomaten-Berichte ist Wikileaks der bisher größter Coup gelungen. Die Reaktionen reichen von demonstrativer Gelassenheit bis Empörung. US-Außenministerin Clinton will gegen die Datendiebe hart vorgehen.

Die bisher spektakulärste Wikileaks-Enthüllung erschüttert die Weltdiplomatie und bringt die US-Regierung in Bedrängnis. Die Internet-Plattform hat die Veröffentlichung von mehr als 250.000 vertraulichen Dokumente aus US-Botschaften gestartet, die einen schonungslosen Blick hinter die Kulissen der internationalen Politik bieten. Angela Merkel wird darin als "Teflon"-Kanzlerin dargestellt, der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi als "eitel und unfähig" bezeichnet und der afghanische Präsident Hamid Karsai als "schwache Persönlichkeit", die von "Paranoia" getrieben sei.

Aufforderung zum Spitzeln

Besonders brisant könnten für US-Außenministerin Hillary Clinton Anweisungen ihres Ministeriums an die US-Botschaften werden. Laut "New York Times" sollen Diplomaten darin aufgefordert worden sein, persönliche Daten von ausländischen Führungspersönlichkeiten zu beschaffen. UN-Botschafter Susan Rice wies dies strikt zurück. "Unsere Diplomaten sind genau das: Diplomaten", betonte sie. Clinton kündigte am Montag "entschlossene Schritte" gegen die Hintermänner des Datenklaus und schärfere Sicherheitsvorkehrungen an.

Die "New York Times" berichtete über rund ein halbes Dutzend Anweisungen des US-Außenministeriums an Botschaften im Ausland. In einer sollen Diplomaten unter anderem dazu aufgefordert worden sein, Informationen über "Internet-E-Mail-Adressen, Website-Identifikations-URLs, Kreditkartennummern, Vielflieger-Ausweisnummern, Arbeitspläne und andere relevante biografische Informationen" zu sammeln.

Präsidentensprecher Robert Gibbs schloss überdies nicht aus, dass die US-Regierung rechtlich gegen Wikileaks selber vorgeht. Es sei eine "Untertreibung", dass Obama "nicht erfreut" über die Enthüllung ist.

Angriff auf die internationale Gemeinschaft

Nach Ansicht von Ministerin Clinton ist die Veröffentlichung "nicht nur ein Angriff auf die US-Außenpolitik, sondern auch ein Angriff auf die internationale Gemeinschaft". Sie gehe aber davon aus, dass die weltweiten Partnerschaften der USA "dieser Herausforderung standhalten". Die Ministerin betonte, die offizielle Außenpolitik der USA werde nicht anhand von derartigen Depeschen gestaltet. "Die Politik wird in Washington gemacht."

Erneut unterstrich sie, dass die Enthüllungen Personen konkret in Gefahr brächten. Es gehe "um echte Risiken für echte Menschen", sagte sie. "Es ist nicht Lobenswertes daran, unschuldige Menschen in Gefahr zu bringen, und es ist nicht Mutiges daran, die friedlichen Beziehungen zwischen Nationen zu sabotieren (...)."

US-Regierung: "Rücksichtslos" und "gefährlich"

Die Reaktionen auf die Veröffentlichung waren am Montag gespalten. Nach Ansicht des Weißen Hauses gefährdet sie weltweit Regimekritiker und Oppositionsführer. Auch die Bundesregierung hält das Vorgehen von Wikileaks für höchst problematisch, sieht das deutsch-amerikanische Verhältnis allerdings nicht beeinträchtigt. Die schärfsten Worte fand der italienische Außenminister Franco Frattini. Er sprach von einem "11. September für die weltweite Diplomatie", weil die Enthüllungen "alle vertraulichen Beziehungen zwischen den Staaten in die Luft jagen".

Es gab aber auch andere Stimmen, die den Erkenntnisgewinn in Frage stellten und vor einer Dramatisierung der Veröffentlichung warnten. Entwicklungsminister Dirk Niebel meinte, man hätte genauso gut den "Spiegel" der letzten drei Monate veröffentlichen können. CSU-Chef Horst Seehofer sprach von "typischem Berliner Cocktail-Geschwätz".

Wikileaks hatte in den vergangenen Monaten bereits geheime Dokumente zu den Kriegen im Irak und in Afghanistan veröffentlicht. Die Diplomaten-Depeschen stammen möglicherweise aus derselben Quelle. Die ersten Berichte wurden am Sonntagabend ins Internet gestellt. Gleichzeitig berichteten fünf renommierte internationale Medien, darunter der "Spiegel", über die brisanten Papiere.

US-Botschafter in Deutschland unter Druck

1.719 der 251.287 Dokumente stammen aus der US-Botschaft in Berlin. Der CDU-Chefin Merkel wird darin laut "Spiegel" bescheinigt, "selten kreativ" zu sein und das Risiko zu meiden. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wird eine "überschäumende Persönlichkeit" zugeschrieben und CSU-Chef Horst Seehofer als "unberechenbarer Politiker" bezeichnet.

Weltweit hatten sich Regierungen auf die Veröffentlichung vorbereitet. Der US-Botschafter in Deutschland, Philip Murphy, rechtfertigte die Einschätzungen seiner Kollegen als normale diplomatische Arbeit, für die er sich nicht entschuldigen werde. Das Vertrauensverhältnis zur deutschen Regierung sieht er allerdings gestört. "Mich macht das unglaublich wütend, und die deutsche Regierung hat ebenso Grund, sich zu ärgern", sagte er dem "Spiegel".

Beziehungen zwischen Iran und arabischen Ländern

Problematisch könnten die Dokumente auch für die Beziehungen zwischen dem Iran und den arabischen Ländern sein. Israel habe genauso wie arabische Verbündete die USA zu einem Militärschlag gegen den Iran gedrängt. Der saudische König Abdullah habe verlangt, "der Schlange den Kopf abzuschlagen". Staaten wie Bahrain und Ägypten hätten ähnliche Einschätzungen vertreten, enthüllte der "Guardian".

Irans Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad bezeichnete die Dokumente trotzdem als wertlos und wies Spekulationen über negative Folgen für die Beziehungen Irans mit den arabischen Ländern zurück. "Diese Dokumente verfolgen bestimmte politische Ziele. Sie sind eine gewisse Art von Geheimdienst-Spiel und haben deshalb keine einzige legale Grundlage", sagte Ahmadinedschad.

dpa