Denkt sie an Afghanistan zurück, fallen ihr zuerst die Frauen ein. Zum Beispiel die sechs jungen Hebammen in der Provinz Wardak. Dort sterben viele Frauen bei der Geburt ihres Kindes, weil das nächste Krankenhaus weit entfernt ist oder die Ehemänner nicht erlauben, dass männliche Ärzte ihre Frauen behandeln. Als ein junges Kamerateam des afghanischen Staatsfernsehens ankündigte, in Wardak eine Dokumentation über die Ausbildung von Hebammen zu drehen, war es Ute Wagner-Oswald, Filmemacherin aus München, die das Team anleitete: "Die Dorfältesten hatten uns erlaubt, bis 16 Uhr dort zu drehen. Danach gehörte die Welt wieder den Taliban."
So entstand ein 13-Minuten-Streifen. An dessen Ende berichtet eine der künftigen Hebammen, wie vermummte Landsmänner sie bedrohten: Sie solle die Ausbildung abbrechen, Berufstätigkeit sei Männersache. Mit ernstem Gesicht sagt die junge Paschtunin in die Kamera, sie sei nun vorsichtiger geworden, bleibe aber entschlossen, weiterzumachen. Der Frauen im Dorf wegen. Der tapfere Film wurde im Januar 2008 tatsächlich im afghanischen Fernsehen ausgestrahlt.
Dieser kleine Triumph über die Welt der fanatischen Traditionalisten liegt jetzt zwei Jahre zurück, und Ute Wagner-Oswald ist wieder zu Hause in München. Von Anfang 2006 bis Mitte 2008 hat die erfahrene Dokumentarfilmerin in Afghanistan Entwicklungshilfe der ganz besonderen Art geleistet. Sie hat keine Brunnen gebohrt, sondern jungen Journalisten des Staatssenders Radio-Television Afghanistan (RTA) in Kabul das ABC des friedensfördernden Journalismus beigebracht.
Atemberaubendes Land
Was treibt eine gestandene Dokumentarfilmerin, die die ganze Welt gesehen hat, dazu, im Alter noch einmal aufzubrechen in ein neues Leben? "Als ich 60 wurde, hatte ich das Gefühl: Ich muss noch einmal alle Kräfte bündeln", sagt die Frau mit dem freundlichen, dezent geschminkten Gesicht. Sie wollte endlich einmal länger ins Ausland. Und diesmal wollte sie nicht nur Beobachterin sein, sondern helfen – soweit es geht: "Mit 30 will man die Welt aus den Angeln heben. Mit 60 weiß man, dass man höchstens einen Anstoß geben kann, damit ein Stein ins Rollen kommt."
Als Ute Wagner-Oswald im winterlichen Kabul des Jahres 2006 landet, betritt sie eine Welt, deren Optik ihr den Atem raubt. Sie hätte in einem fort fotografieren können, sagt sie. Doch auch die angespannte Sicherheitslage fällt ins Auge: Die ausländischen Truppen und die meisten internationalen Helfer haben sich aus Furcht vor Anschlägen in Hochsicherheitscamps eingeigelt, die sie nur in gepanzerten Jeeps verlassen. Kontakt zu den Einheimischen haben sie kaum. Der Journalistin aus Deutschland raten sie, nicht auf den Basar zu gehen.
Die Einschläge kamen näher
Wagner-Oswald (Foto) geht trotz der Warnungen auf den Markt. Sie hat bald genug von der westlichen Parallelwelt. "Ich wollte doch nicht zwei Jahre wie eine Gefangene leben, sondern raus ins wirkliche Leben." Sie mietet mit einer deutschen Kollegin ein Haus mitten in der Altstadt von Kabul. "Der beste Schutz", sagt sie, "ist, mit den einheimischen Nachbarn gut bekannt zu sein." Aber in Gefahr ist sie doch: Das Viertel, in dem sie arbeitet, wird Ziel von Anschlägen, denn direkt hinter dem Rundfunkgebäude liegt die US-amerikanische Botschaft. "Eines Morgens, eine halbe Stunde bevor ich ankam, riss eine Bombe ein halbes Haus weg. Keine Scheibe beim Sender blieb heil. Da hab ich richtige Angst um meine Leute gehabt."
Während sie vom 5.000 Kilometer entfernten Horror erzählt, sitzt Ute Wagner-Oswald in ihrem idyllischen Haus im Norden Münchens. Draußen vor der Terrassentür hoppelt ein Hase durch den Garten – zur Freude der kleinen Enkelsöhne. Doch die Hausherrin ist mit ihren Gedanken im fernen Kabul. Am Anfang, sagt sie, hätten sie die Attentate nicht sonderlich beeindruckt. Aber als die Einschläge immer näher kamen, sank ihr Mut nach und nach. "Ich fragte mich: Ist es nicht völliger Quatsch, in diesem Land mit einem so kleinen Hilfsprogramm etwas bewegen zu wollen? Was bringen wir diesen Leuten überhaupt?" Doch dieses Grübeln kam erst später.
Bollywood statt Taliban-TV
Anfang 2006 herrscht noch viel Aufbruchsstimmung. Ein frischer Wind hat Afghanistan ergriffen, seit die Nato und die einheimische Nordallianz die Taliban in ihre Berghöhlen zurückgetrieben haben. Seit 2002 blüht auch die von den Taliban abgewürgte Medienlandschaft wieder auf. Vor allem das Fernsehen; denn unter der Herrschaft der fanatischen Koranschüler hatte es nicht mehr stattgefunden – sieht man von den ausgestrahlten Verboten einmal ab. Lange unterdrückte Bedürfnisse der Menschen nach Musik, indischen Liebesfilmen und politischer Kontroverse werden nun von den unzähligen hastig gegründeten Privatsendern gestillt.
Der Regierungssender RTA verfolgt ein braveres Programm. Aber auch er bekommt – zeitgleich mit Ute Wagner-Oswalds Eintreffen – einen neuen Intendanten, dessen Ehrgeiz es ist, den Sender auf westliches Niveau zu trimmen. Die neue Beraterin aus Deutschland kommt ihm da gerade recht. Sie will sich auf drei Sendungen konzentrieren: jeweils eine mit überwiegend männlichen, weiblichen und jugendlichen Zuschauern. Dafür macht sie sich auf die Suche nach neuen munteren Mitarbeitern.
Begabte Moderatoren
Für ihr Jugendmagazin gewinnt Ute Wagner-Oswald bald eine 17-Jährige und einen 18-Jährigen, die sich als begabte Moderatoren herausstellen. Die beiden gehen nun mit allerlei landeskundlichen Fragen in die Kabuler Schulen. "Dabei", so erinnert sich Wagner-Oswald, "hatten wir das Prinzip, dass unser Junge die Mädchen in der Klasse befragt und unser Mädchen die Jungen. Das war revolutionär für eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen streng getrennt werden."
Ein weiteres Experiment haben sich die jungen Mitarbeiter selbst gewünscht. Sie wollen eine Modenschau senden. Die deutsche Mentorin ist zunächst skeptisch: "Ich dachte: Was für ein belangloses Thema!" Aber bald begreift sie, wie brennend wichtig den Menschen das hier ist. Und so kann das einheimische Publikum im staatlichen Fernsehen Afghanistans bald jede Woche junge Männer und sogar einige junge Frauen dabei beobachten, wie sie in hipper westlicher Kleidung auf einem Laufsteg auf und ab stolzieren – die Damen natürlich mit Kopftuch.
"Eiserne Begleitung"
Für ihre drei Sendungen schart Ute Wagner-Oswald 20 erfahrene und neue Mitarbeiter um sich. Gemeinsam entwickeln sie frische Themen. Die Deutsche begleitet ihre Kollegen zu Terminen und geht ihnen beim Schnitt zur Hand. Allmählich lernen sie, wie man eine Sendung aufbaut, sie spannend erzählt und schön bebildert. Und dass man auf belehrende Kommentare verzichtet. Wagner-Oswald sagt rückblickend, sie sei damals eine "eiserne Begleitung" gewesen, habe aber auch viel gelobt. "In diesem autoritären Land waren sie es überhaupt nicht gewöhnt, dass jemand gute Arbeit honoriert."
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Die jungen afghanischen Journalisten sind begabt im Aufspüren von Mutmacher-Geschichten. Diese finden ihren Platz im Familienmagazin "Wege zum Glück" und in der Frauensendung "Die zweite Hälfte". Letztere präsentiert engagierte und erfolgreiche Frauen – zum Beispiel die Geschäftsführerin einer Restaurantkette für Frauen in Herat oder eben die jungen Hebammen aus Wardak.
Auch die Opfer der patriarchalen Gesellschaft rücken sie ins Bild. "Es war schwer", so Wagner-Oswald, "Frauen zu finden, die sich trauten, vor der Kamera die Misshandlungen ihres Ehemanns zu schildern. Viele haben wir zu ihrem eigenen Schutz in der Burka gefilmt." Das Fernsehteam ergänzt diese Porträts durch Kommentare fortschrittlicher Religionsgelehrter oder Ärzte. "Wenn ein bärtiger Mullah in die Kamera sagt, dass solch eine schlechte Behandlung der Frau nicht im Koran steht, hat das Gewicht."
Die Ultras schlagen zurück
Rückblickend war all das wohl zuviel des frischen Windes beim Staatsfernsehen. Die politische Gesamtwetterlage hat sich inzwischen gedreht. Die Traditionalisten erstarken, sie sitzen nun in der Regierung und erheben ihre Stimme gegen die "Überfremdung durch westliche Dekadenz". Der neue Intendanten gibt entnervt auf. Sein Nachfolger greift oft in die Sendungen ein. Die Modenschau des Jugendmagazins wird abgesetzt. Ein Beitrag über einen Schönheitssalon in der Provinz wegen angeblicher Unanständigkeit zensiert.
Wagner-Oswald registriert für sich: "Man kann gar nicht langsam genug vorgehen, um die Leute mitzunehmen." Es gelingt der deutschen Journalistin immer weniger, ihre Kollegen zu kritischen Berichten zu bewegen: "Sie hatten einfach Angst, dass jemand mit dem Maschinengewehr vor der Türe steht. Sie sagten mir: Du gehst ja irgendwann wieder, aber wir müssen dableiben und es ausbaden."
Aha-Effekt für Zuschauer
Bis heute hält Ute Wagner-Oswald Kontakt zu ihren afghanischen Kollegen. Von ihnen erfuhr sie: Der Staatssender RTA verordnete dem Jugendmagazin wieder den moralischem Zeigefinger. Und die Frauensendung ist ein reines Männerprojekt. Doch die Filmerin ist sicher: "Etwas von meinem Werk wird bleiben." Auch wenn ihre jungen afghanischen Kollegen nun alle bei den relativ freien Privatsendern arbeiten: "Was sie bei mir gelernt haben, werden sie nicht vergessen." Viele Zuschauer hatten den selben Aha-Effekt wie die Männer der jungen Hebammen von Wardak. Sie haben gesehen: Wenn Frauen berufstätig sind, ist das kein Risiko für die Familie, sondern es bringt alle voran.
Für die Journalistin aus Deutschland ist nachvollziehbar, dass Präsident Karsai mit gemäßigten Taliban Gespräche führt. Aber sie ist skeptisch, ob die Privatsender einen möglichen Kompromiss der beiden Parteien überleben: "Die Taliban werden sicher darauf dringen, dass die relativ freie Presselandschaft nicht mehr so blühen kann wie in diesem Jahrzehnt." Das Fernsehen sei Afghanistans Tor zur Welt, sagt Wagner-Oswald. "Durch unsere Sendungen haben die Leute gesehen, dass man auch anders leben kann. Das lässt sich so schnell nicht rückgängig machen."
Wenn Ute Wagner-Oswald an Afghanistan denkt, fallen ihr die vielen mutigen Frauen ein und deshalb möchte sie gerne zurückkehren. "Wenn es friedlicher ist, würde ich wieder hingehen", sagt die heute 65-Jährige. Sie hat noch immer nicht die Idee begraben, dort einen Film zu drehen "über das andere Afghanistan: über die wunderbaren starken Frauen". Denn die sind die wahren Garanten für Frieden am Hindukusch.
Martin Rothe ist freier Journalist, hat unter anderem Religionsgeschichte studiert und die Evangelische Journalistenschule in Berlin absolviert. Seine Schwerpunktthemen sind Islam, Integration und Kirche.